Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seherin der Kelten

Die Seherin der Kelten

Titel: Die Seherin der Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manda Scott
Vom Netzwerk:
er: »Ich komme mir vor wie ein Wahrsager, der auf die aufgeschnittene Oberfläche einer Leber starrt, auf der doch nichts geschrieben steht. In der Breite entspricht das Herz des Jungen einer Männerfaust, von der Spitze bis zum Herzboden gemessen ist es sogar noch etwas größer. Es liegt leicht linkslastig in der Brust, und der obere Rand beginnt hinter der Brustwarze. Um Gewissheit zu haben, müsste ich den Brustkorb öffnen und die Leiche genauer untersuchen, aber ich gehe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon aus, dass jeder dieser Speere das Herz getroffen hat und dass auch ein jeder von ihnen für sich allein genommen den Jungen bereits getötet hätte. Wenn dies ein griechischer Wettstreit wäre, würde der Preis zwischen beiden Kontrahenten zu gleichen Teilen aufgeteilt. Nach den Riten der Träumer mag das natürlich anders sein.«
    Das war es sogar ganz eindeutig. Noch immer im Innersten erschüttert, spürte Breaca, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich und nur zäh wieder zurückströmte.
    Der Gouverneur, der noch immer die Speere musterte, erwiderte: »Nicht schlecht, denke ich, für zwei Krieger, die schon lange aus der Übung sind.« Dann richtete er sich auf und streckte Breaca die Hand entgegen. »Verehrteste, welcher unserer beiden Stämme hätte denn nach den Riten Eurer Ahnen gewonnen?« Er fragte nicht: Und welcher von uns beiden hätte als der Verlierer sterben müssen?
    Breaca hatte keine Ahnung und wusste auch nicht, wie sie sich retten sollte. Einer der Speere musste töten, und der andere musste sich in nunmehr totes Fleisch graben; ein Krieger musste gewinnen, der andere verlor nicht nur den Wettstreit, sondern auch sein Leben; etwas anderes duldeten die Götter nicht.
    Ein ganzes Jahrzehnt sorgfältigster Schulung gaben Breaca schließlich doch noch die Worte ein, die der Gouverneur hören wollte. In dem Bewusstsein zu lügen, entgegnete sie: »Ich denke, es wäre möglich, dass der Wettstreit als von beiden gewonnen angesehen würde. Das wäre ein Zeichen der Götter gewesen, dass die beiden Stämme fortan Verbündete sein sollten.«
    Quintus Veranius lächelte, wie vielleicht ein junger Mann gelächelt hätte, der einen Wunsch erfüllt bekam. »Dann sollte der dritte Speer von uns beiden gemeinsam gestoßen werden. Vielleicht schaffen wir es, wenn wir vorsichtig sind, nicht die Klinge zu beschädigen, damit ich wenigstens ein unversehrtes Beispiel Eurer Handwerkskunst besitze, um es als Erinnerung an diesen Tag bei mir an die Wand zu hängen?«
    Theophilus trug den dritten Speer heran. Unter seiner Anweisung ergriffen Breaca und der Gouverneur gemeinsam das Speerheft. Mit außergewöhnlicher Behutsamkeit stießen sie dem toten Jungen die Waffe in die linke Seite seines Brustkorbs, zogen sie dann wieder heraus, und nur eine zarte Spur frischen Blutes blieb als Zeugnis dieses Akts auf der Haut des Toten zurück. Dann nahm Quintus Veranius seinen neuen Preis an sich und ließ sich seinen Umhang bringen, um die Klinge abzuwischen, ehe er sie wieder auf die Rohwolle im Inneren der Geschenkkiste bettete.
    Breaca spürte, wie ein Schatten über sie fiel, und wandte sich um. Corvus kam über den Sand auf sie zu. Schneidig salutierte er und hob in lateinischer Sprache an: »Meinen Glückwunsch, Verehrteste. Ich habe selten einen so tadellosen Wurf gesehen. Wenn Ihr erlaubt, so wäre es mir eine Freude, Euch zurück zu den Sitzplätzen zu geleiten.«
    Leiser und in der Sprache Monas, die er überdies gar nicht hätte kennen dürfen, fügte er hinzu: »Dein Sohn Cunomar ist verschwunden. Cygfa bat um die Erlaubnis, ihm folgen zu dürfen. Ich hätte ihr diese Erlaubnis erteilt, aber Graine verbot es deiner Tochter. Ich offenbare mich also als ein Mann, der Befehle von einem siebenjährigen Mädchen entgegennimmt. Mein einziger Trost ist, dass auch Cygfa sich an Graines Anweisung hält. Ich denke, du solltest mit ihnen beiden sprechen. Wenn der Sohn - wie Graine glaubt - die Absicht hat, seine langen Nächte der Einsamkeit zu absolvieren, und dabei erwischt wird, dann wird er das gleiche Schicksal erleiden müssen, wie es eigentlich auch diesem Jungen hier beschieden gewesen wäre. Die Kreuze sind noch immer leer. Sie dürsten ebenso inbrünstig nach Blut wie der dritte deiner Speere.«

DRITTER TEIL
    Wintersonnenwende A. D. 58 - Herbst A. D. 59

XVIII
     
    Weder in all den von Wunschträumen erfüllten Jahren seiner Kindheit noch in den vielen weiteren, von den Albträumen der

Weitere Kostenlose Bücher