Die Seherin der Kelten
groß ist wie diejenige, die vor fast zwanzig Jahren in Britannien einfiel. Und sobald sie die Berge im Westen erobert haben, werden sie jedes auch nur annähernd taugliche Wasserfahrzeug beschlagnahmen, um die Meerenge zu überwinden. Du kannst dir keine Zeit mehr lassen.«
Valerius stemmte sich aus der Feuergrube heraus und trat um den Graben herum auf Efnís’ Seite. Die Wand hinter ihm war geradezu übersät mit Schnitzereien aus anderen Zeitaltern. Das neueste dort eingeritzte Zeichen war das seine: die Konturzeichnung eines Hundes, wobei das Holz in den ausgesparten Linien noch weiß war. Hier auf Mona zeigte sich sein Hund nur selten in seiner ganzen Gestalt; die Schnitzerei enthielt somit auch nur den Kern seines Wesens, so dass sich Valerius’ Hände gleich lebendiger anfühlten, wenn er sie berührte. Sein Traumzeichen hier zurücklassen zu müssen, fühlen zu müssen, wie der geschnitzte Hund verbrannte, wenn die Legionen das Versammlungshaus in Schutt und Asche legten, würde ihn mehr schmerzen, als er sich vorzustellen wagte.
Efnís stand noch immer unten in der Rinne. Valerius ging in die Hocke, so dass ihrer beider Augen auf einer Höhe waren und Seele mit Seele zusammentreffen konnte, und sagte ruhig: »Es sind die Ältesten, die das Haus zu etwas Großem machen, nicht das Holz oder das Reetdach und auch nicht die Schnitzereien entlang der Dachbalken. Ich kann doch wieder einen neuen Hund schnitzen. Aber ich kann keine neue Generation von Träumern in den Lehren Monas unterweisen, weil ich sie nicht kenne. Ob die Götter dir wohl danken werden, wenn zwar das Große Versammlungshaus noch immer steht, du dafür aber tot bist?«
Sie waren einmal Freunde gewesen, damals, vor langer Zeit, als die Eceni noch ein schlagkräftiges Volk gewesen waren und Rom bloß ein Name, um Kinder zu erschrecken. Unter all den Schandflecken des Verrats und den Schatten der rachsüchtigen Toten war noch ein letzter Verbindungsstrang vorhanden, eine Brücke, die Valerius noch immer in die Lage versetzte, in Efnís’ Augen zu lesen und jenen Augenblick zu erkennen, in dem das Unmögliche nicht nur möglich wurde, sondern sogar unvermeidlich.
Efnís brauchte etwas länger, um dies zuzugeben, und noch länger, bis er bereit war, es auch laut auszusprechen. Als er es dann tat, geschah dies mit der Verzweiflung eines Menschen, der sich zwar in die Enge getrieben fühlt, aber noch immer die Macht besitzt zu verletzen.
»Braint wird niemals dazu bereit sein, ihre Krieger zurückzuziehen«, sagte er schließlich. »Sie wird ihr Leben dafür geben, um Mona zu verteidigen, und jene, die ihr folgen, werden neben ihrem Leichnam wachen, bis auch der Allerletzte von ihnen niedergestreckt worden ist. Für deine Schwester hätten sie genau das Gleiche getan. Und sie werden es noch immer tun, wenn die Bodicea denn jemals zurückkehrt, um wieder ihren Platz unter ihnen einzunehmen.«
XXX
»Braint ist verschwunden! Ihr Pferd kehrte ohne sie zurück. Wir haben den ganzen Morgen nach ihrer Leiche gesucht, konnten sie aber nirgends finden!«
Diese Nachricht wurde von dem Katapultschützen überbracht, der den Überfall aus dem Hinterhalt angeführt hatte, den Valerius von seinem Aussichtspunkt auf dem Berg aus beobachtet hatte. Der raubeinige, breitschultrige Jüngling vom Stamm der Silurer sah kaum alt genug aus, um einen Speer heben zu können, dennoch trug er schon die Narben von fünf Jahren des Kämpfens. Er stand auf dem Anleger, das Tau zum Festmachen der Fähre noch in der Hand, und das Einzige, was ihn davon abhielt, in Tränen auszubrechen, war der Schmerz, den seine Zähne verursachten, indem sie sich hart in seine Unterlippe gruben.
Seit dem Überfall auf die römischen Kavalleriepferde und Valerius’ Unterhaltung mit Efnís war nur ein halber Monat verstrichen. Und doch hatte sich in dieser kurzen Zeit das einst so ruhige Leben auf Mona in ein nur noch unter großen Mühen zu beherrschendes Chaos verwandelt.
Luain mac Calma war unterdessen aus Irland zurückgekehrt und hatte einen kleinen Schiffsverband von Fischerbooten mitgebracht, ganz so, als ob die von Valerius vorgeschlagene Evakuierung bereits seit dem Herbst im Detail geplant gewesen wäre. Die Aufgabe, ganze Familienverbände mitsamt ihren Siebensachen, ihren Pferden, Schafen und Kühen umzusiedeln, strapazierte die organisatorischen Fähigkeiten der Ältesten über alle Maßen, doch ein Drittel der Bewohner Monas hatte die Überfahrt mittlerweile bereits
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