Die Seherin der Kelten
Prokurator ein galoppierendes Pferd aus reinem Gold, das so viel wert war wie ein halbes Jahresgehalt eines jeden der bei dem Prokurator in Lohn und Brot stehenden Männer. Unter dem Umhang war Cunomar bis zur Taille hinab nackt, bedeckt mit von Kriegen oder Ritualen stammenden Narben, die sich kreuz und quer über seinen Oberkörper zogen und Theophilus kurz aufstöhnen ließen, dem Prokurator aber gar die Sprache verschlugen.
»Das Geschenk der Eceni«, erklärte der junge Mann und lächelte. »Als Ausdruck unseres Respekts vor Eurem Amte, verbunden mit dem aufrichtigen Wunsch, den Leichnam unseres ermordeten Königs wiederzuerlangen.«
Nackt bis zur Taille, die Schultern und der Rücken klar erkennbar von den Zeichen der Bärinnenkrieger überzogen, kniete Cunomar im dreckigen Schlamm von Camulodunums Hauptstraße und beobachtete den Prokurator von ganz Britannien dabei, wie dieser die drei möglichen Erwiderungen, die er auf das Geschenk und die damit verbundene Bitte geben könnte, allesamt der Reihe nach erwog und jede wieder verwarf.
Der Mann war wie ein Blutegel, und dafür konnte man ihn wahrlich verabscheuen, aber er war zumindest nicht der Gouverneur, und dafür wiederum war Cunomar aufrichtig dankbar. Den ganzen Winter über hatte er seine Rede eingeübt, bis er sie sogar im Schlaf aufsagen konnte - und das auch tatsächlich getan hatte. Brocken von Latein drängten sich bis in seine Träume hinein wie Krähen auf ein Schlachtfeld, und er war außerordentlich erleichtert gewesen, als endlich das Tauwetter einsetzte und damit die Zeit zum Handeln kam.
Es war unmöglich gewesen, schon im Voraus zu wissen, wer zum Zeitpunkt der Schneeschmelze das Kommando über die Garnison der Stadt haben würde. Angesichts zweier möglicher Alternativen war die Entscheidung, vor dem Prokurator niederzuknien, also ein recht später Beschluss gewesen, der Cunomar allein von seinem Instinkt eingegeben worden war: Corvus besaß keinen dermaßen ausgeprägten Stolz, dass er es allzu streng beanstanden würde, wenn man einfach an ihm vorbeiritt; der Prokurator hingegen war gefährlich, und die Eceni mussten unbedingt sein Wohlwollen gewinnen oder sich seiner wenigstens durch so etwas wie einen Appell an seine Ehre versichern.
Während Cunomar Decianus Catus nun beobachtete, erkannte er, dass er mit seiner Vermutung durchaus Recht gehabt hatte. Denn noch ehe der Prokurator sich wieder gänzlich hatte sammeln können, trat Corvus vor und half Cunomar, wieder aufzustehen, indem er ihm seine Hand reichte.
»Willkommen in Camulodunum, Cunomar, Sohn der Breaca und Erbe von Prasutagos, dem König der Eceni. Wir bedauern den Tod eures Königs zutiefst und entsenden deiner Mutter sowie deiner Familie unser aufrichtiges Beileid. Im Namen des Kaisers werden wir natürlich auch Prasutagos’ Leichnam wieder zurückschicken, sobald uns dies möglich ist. Bis dahin aber... Es war doch ein langer Ritt, ihr müsst müde sein. Wenn du also so freundlich sein möchtest, deine Ehrengarde mitzubringen und dich zu uns zu gesellen, so würden wir euch gerne die Gastfreundschaft unserer Stadt anbieten.«
Das war eine wahrlich kluge Ansprache. Denn kein Mann, ganz gleich, wie mächtig dieser auch sein mochte, konnte leichthin eine Einladung im Namen des Kaisers zurückweisen.
Cunomar verneigte sich, ganz so, wie er es einst in Rom bei einem der Söhne des damaligen Kaisers beobachtet hatte: »Danke. Im Namen meines Volkes...«
»Nein.« Der Prokurator war mittlerweile wieder Herr über seine Stimme. »Selbstverständlich wird die Leiche des Königs wieder zurückübereignet, zuvor aber müssen wir noch sein Testament überprüfen, das mit seinem Tode Gesetz geworden ist und welches wir bisher noch gänzlich vernachlässigt haben. Eine Abschrift des Testaments wird in der Residenz des Gouverneurs verwahrt. Diese sollten wir also unverzüglich studieren, um zunächst einmal den Umfang des Nachlasses zu bestimmen sowie die Namen der Begünstigten.«
...den Umfang des Nachlasses sowie die Namen der Begünstigten. Ein eisiger Schauder des Unbehagens rieselte über Cunomars Rückgrat hinab. Den ganzen Winter über war dies jene eine Sache gewesen, über die sie bislang noch nichts wussten: Niemand in der Siedlung oder in den jenseits davon liegenden Gebieten hatte auch nur die geringste Vorstellung von dem Inhalt von Tagos’ letztem Willen oder wie über diesen nach seinem Tode verfügt werden würde.
Auch Corvus schien darüber nicht
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