Die Seherin der Kelten
schlug einen Haken - alles, nur um noch einige wenige weitere Atemzüge von seinem Leben nehmen zu dürfen. Atemzüge, die so kostbar waren, dass Graine seinen verzweifelten Wunsch, zu überleben, wie einen feuchten, metallenen Geschmack auf ihrer Zunge kosten konnte. Sie langte nach dem Hasen, verzweifelt darum bemüht, ihm zu helfen, doch diese Geste besiegelte seinen Tod. Der Hase strauchelte, überschlug sich im Laufen, und Stone, der sich auf dieser Jagd geradezu selbst übertraf, streckte sich, schaffte es, genau diese eine Handlänge, die ihn noch von seiner Beute trennte, zu überwinden, und packte zu. Der Hase starb schreiend, während die Trümmer seines kleinen Brustkorbs sich um sein Herz schlossen. Bis zuletzt blieben seine glänzend schwarzen Augen fest auf Graines gerichtet, baten sie stumm um Schutz und Befreiung.
In diesem Augenblick, im Alter von sechs Jahren im nassen Gras stehend, über sich, von Nebel verhangen am westlichen Himmel, der Halbgeist des Mondes von Nemain, verstand Graine nic Breaca mac Caradoc, die Erbin der königlichen Linie der Eceni, mit geradezu niederschmetternder Klarheit die echte Hilflosigkeit der Götter - wenn die von ihnen in bester Absicht entfesselten Kräfte gerade jene Menschen vernichteten, welche sich zuvor Hilfe suchend an sie gewandt hatten. Das Ausmaß dieser Erkenntnis, das Trugbild der Hoffnung, wenn alles, was wirklich wahrhaftig war, doch allein die Gewissheit des Todes war, überwältigte Graine. Sie saß im Gras und weinte, wie nur ein Kind weinen kann, weinte um ihren Hasen, der noch vor allen anderen das Tier Nemains war; weinte um ihre Mutter und um ihren Vater, die für immer getrennt sein würden; weinte um sich selbst, die sie verloren war in einer Welt von unberechenbaren Kräften, in einer Welt, in der Cygfa und Cunomar allein deshalb von den Toten wiedergekehrt zu sein schienen, um fortan ebenfalls Besitzansprüche an das Herz ihrer Mutter zu stellen. An jenes Herz, das doch schon so entsetzlich zerrissen war. Und schließlich weinte Graine auch um den mutigen, großherzigen Kampfhund, der bei dieser Jagd alles gegeben hatte und nun Lob suchend zu ihr kam, und der doch nicht verstand, warum sie ihm diese Anerkennung nicht geben konnte, sondern sich schluchzend an seinen Hals klammerte.
Airmid, die Träumerin von Nemain, fand sie kurz nach Mittag neben dem Bach, der durch jenen Teil des Waldes verlief, in den das Sonnenlicht am wenigsten vorzudringen vermochte. Graine saß auf dem Stamm einer umgestürzten Birke. Neben Graine, auf dem Gras, lagen der abgezogene Körper des Hasen und der Hund, der sich auf der Seite ausgestreckt hatte. Graine hatte das Fell des Hasen zwischen einigen Steinen aufgespannt und es zum Teil bereits gesäubert. Der Kopf des Tieres, der ungeschickt abgetrennt worden war, thronte auf einem Felsen in der Mitte des Flüsschens, das Gesicht nach Westen gewandt, in Richtung der Ahnen. Festgehalten von einigen Flusskieseln schwebte eine lange Strähne ochsenblutroten Haares neben dem Tierkopf im Wasser. Seitlich an Graines Kopf war eine kahle Stelle zu erkennen, während sie zusammengekrümmt und weinend am Ufer des Flusses saß.
Seit Sonnenaufgang hatte die Träumerin schon nach dem Kind gesucht, das zwar nicht ihre leibliche Tochter war, diesen Platz in ihrem Herzen aber dennoch eingenommen hatte. Als Airmid Graine nun dort am Ufer hocken sah, trat an die Stelle der morgendlichen Sorge plötzlicher Ärger, der aber sogleich einer noch viel tiefer reichenden Angst wich. Airmid stand ganz still da, überzeugt davon, dass die beiden sie weder gehört noch gesehen hatten. Zumindest der Hund ließ durch nichts erkennen, dass er sie bemerkt hatte. Graine dagegen beugte sich, ohne zuvor aufgeschaut zu haben, nach vorn und drehte den Hasenkopf so herum, dass er über das Wasser hinweg direkt auf Airmid blickte. »Ich wollte ihm meine Ehrerbietung erweisen«, erklärte sie. »Er hat mir gezeigt, was in der Höhle der Ahnen mit Mutter geschah.«
Airmid konnte, wenn sie wollte, genauso schnell rennen wie ein Krieger. Ohne auf ihre Tunika zu achten, sprang sie über die nassen Flusssteine, kniete sich neben dem Kind nieder und umschlang die schmalen, zuckenden Schultern. Eine Strähne zerzausten, ungekämmten Haares fiel auf ihre Finger hinab; jener Teil von Graine, der allein dem Mädchen gehörte und der sich weder bei Vater oder Mutter noch bei den Großeltern mütterlicher- oder väterlicherseits wiederfand. Zu dem Zeitpunkt
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