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Die Seherin der Kelten

Die Seherin der Kelten

Titel: Die Seherin der Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manda Scott
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als er noch ein Junge gewesen war und ein Freund aller Stämme, der Hasenjäger genannt worden. Und Graine hatte den Eindruck, als ob ihre Mutter um den Verlust ihres Bruders ebenso trauerte, wie sie um Caradoc weinte, der die Quelle gewesen war, aus der Breacas Seele sich gespeist hatte. Wenn Graine nun also schon nicht den Platz ihres Vaters einnehmen konnte - und die Jahre, die er nun schon fort war, hatten ziemlich deutlich gezeigt, dass sie das einfach nicht vermochte -, dann konnte sie ja vielleicht zu einer zweiten Hasenjägerin werden und damit zumindest den Schmerz ihrer Mutter über den Verlust von Bán ein wenig lindern.
    Das würde zwar nichts an der Tatsache ändern, dass Breaca verwundet war, und auch nichts an ihrer Auseinandersetzung mit der Schlangenträumerin, aber vielleicht würde es ihr ja wenigstens ein Lächeln entlocken können. Graine Hasenjägerin. Das klang ganz gut. Graine konnte beinahe schon hören, wie Airmid sie so nannte, und sie konnte beinahe schon sehen, wie die Bodicea, umgeben von den Mitgliedern des Ältestenrats, diesen Namen für ihre Tochter annahm und wie glücklich er sie machte.
    Der Abstand war nur noch gering. Der Abstand zwischen Jäger und Gejagtem, zwischen Opfer und Sieger. Nur noch ganz gering.
    Stone hatte seine besten Jahre zwar schon hinter sich, war aber nach einem langen Sommer voller Kämpfe noch immer in guter körperlicher Verfassung. Er streckte sich im Laufen, flog förmlich wie ein Pfeil dicht über dem Boden dahin, und der entscheidende Abstand zwischen Jäger und Gejagtem wurde von Sekunde zu Sekunde geringer, bis Stone endlich zuschlagen konnte und den Hasen fast getötet hätte - aber nur fast.
    Der Hase hatte schon eine ansehnliche Größe erreicht, und auch er hatte bereits einen Sommer voller Gefahren durchlebt. Er hatte genug über die Jagd gelernt, um sich zumindest vor dem ersten Angriff noch zu schützen. Weiß bezahnte Kinnladen schlugen krachend aufeinander, bissen in leere Luft, dort, wo gerade eben noch die Brust des Hasen gewesen war, aber die Beute war schon wieder verschwunden. Verzweifelt kämpfte der Hase darum, den Zeitpunkt seines Todes noch ein wenig aufzuschieben; er wich seinem Verfolger blitzschnell aus, drehte sich halb um die eigene Achse, so dass er zum ersten Mal seit Beginn der Jagd genau in die Richtung von Graine sah, die zwischenzeitlich aufgesprungen war und bis zu den Knien im Heidekraut stand. So weit entfernt er in diesem Augenblick auch sein mochte, so hob der Hase doch den Kopf und blickte ihr geradewegs in die Augen, bat sie um sein Leben. Ihr Hase flehte sie um Hilfe an, bettelte um die Gunst, einfach nur am Leben bleiben zu dürfen.
    Das war nun ganz und gar nicht das, was Graine sich ausgemalt hatte. Wie eine erstickende Flutwelle schlug die Angst über ihr zusammen. Doch es war nicht etwa ihre eigene Angst, die Graine spürte, es war die Angst des Hasen, die hämmernde, nahezu das Herz zerreißende Todesangst der gehetzten Kreatur. Noch ehe das Mädchen genug Luft holen konnte, um zu schreien, wirbelte der Hase erneut halb um die eigene Achse, duckte sich blitzschnell unter dem Hals des Hundes hindurch und floh dann wie ein Speer geradewegs auf Graine zu - tauchte Zuflucht suchend zwischen ihren Beinen hindurch.
    Graine hätte Stone befohlen, von dem Tier abzulassen, wenn es in ihrer Macht gestanden hätte. Sie tat ihr Bestes, schrie den Hund an, bis ihre Kehle schmerzte, doch jeder wusste, dass das einzige Mittel, mit dem man einen Abkömmling von Hail noch aufhalten konnte, wenn er jagte oder wenn er in einer Schlacht kämpfte, ein Speer war. Aber Graine war erst sechs, sie hatte also keinen Speer, den sie nach dem Hund schleudern konnte, und selbst wenn sie einen zur Hand gehabt hätte, so hätte sie es doch niemals gewagt, ausgerechnet jenen Hund zu verletzen, in dem das Herz und die Seele des sagenumwobenen Hail weiterlebten - und der alles war, was ihrer Mutter noch von ihrem Leben vor der römischen Invasion geblieben war. Unbeweglich wie ein Fels stand sie inmitten des Heidekrauts, als der Hund an ihr vorbeischoss, so konturlos wie ein Blitz und genauso taub, genauso tödlich.
    Der Hase war nur noch eine Armlänge von ihr entfernt. Die Zeit schien sich unendlich zu dehnen, während sich das Tier wieder und wieder um die eigene Achse drehte, dreimal, viermal. Er sprang vom einen Hinterlauf auf den anderen, duckte sich blitzschnell, um der mit scharfen Reißzähnen bewehrten Hundeschnauze auszuweichen,

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