Die Seherin der Kelten
von Graines Geburt war ihr Haar so blass gewesen wie winterliches Stroh, und für eine Weile hatte es ganz danach ausgesehen, als ob die Visionen eines ganzen Lebens ein Irrtum gewesen wären. Doch noch innerhalb ihres ersten Lebensjahres hatte Graines Haar sein tiefes Rot in der Farbe von Ochsenblut angenommen und hatte damit zumindest das erste zarte Aufkeimen von Hoffnung gerechtfertigt erscheinen lassen.
Später, als der Säugling zu einem kleinen Kind herangewachsen war, wurde ihre hübsche und zierliche Statur sichtbar; die feinen Linien ihres Gesichts spiegelten niemandes Züge so deutlich wider wie die des Bruders ihrer Mutter, Bán, mit dem Graine doch nur den geringsten Teil ihres Blutes teilte.
Allein Graines Augen waren erkennbar die ihres Vaters: das changierende Grau, das sich ganz nach der Stimmung ihrer Seele wandelte und von dem dunklen Grau von Sturmwolken bis hin zu dem fast bläulich schimmernden Glanz von frisch geschmiedetem Eisen reichte. Oberflächlich betrachtet hatte das Kind nichts von seiner Mutter geerbt. Man musste sowohl die Seele von Breaca als auch die von Graine schon sehr gut kennen und lieben, um das in ihren Herzen lodernde Feuer zu entdecken und die unterschiedlichen Formen, die es in der Kriegerin und der Träumerin angenommen hatte.
Jetzt jedoch brannte die Flamme in Graine nur noch schwach, bestand allein aus Schmerz und einem zerbrechlichen Stolz. Der Birkenstamm lag genau entlang des Bachverlaufs und ließ feine Löckchen weißer Rinde auf den Lehmboden rieseln. Airmid setzte sich ein wenig abseits nieder und zog aus dem Beutel an ihrem Gürtel jene Hand voll bereits geknackter Haselnüsse und verschrumpelter, grüner Holzäpfel hervor, die sie im Morgengrauen und bereits in dem Gedanken gesammelt hatte, diese mit ihrer Nicht-Tochter gemeinsam zu essen. Sie bot Graine davon an, während sie in das hinter dem Hasenkopf entlangströmende Wasser starrte. »Kannst du mir beschreiben, was genau dir der Hase gesagt hat?«, fragte sie.
In den jenseits des Flusses liegenden Wäldern spielte der Westwind mit den Herbstblättern, ließ sie aufwirbeln. Graine hob den Blick. Ihre Augen schienen alterslos zu sein. »Als Mutter gegen die Verräterin Cartimandua kämpfte, hast du Nemain um Hilfe gebeten«, erklärte sie. »Trotzdem haben wir verloren.«
Er hat mir gezeigt, was mit Mutter geschah... Airmid atmete ein paar Mal tief ein und aus und entspannte ihre zu Fäusten geballten Hände wieder. Sie war bei Graine gewesen, als sie beide die Vision von Breaca gesehen hatten. Wie durch einen Nebel war das Bild aus dem Wasser aufgestiegen, doch selbst aus so weiter Entfernung war klar zu erkennen gewesen, dass die Kriegerin im Sterben lag. Airmid hatte gebetet und war die gesamten drei Tage, die seitdem verstrichen waren, in ihren Träumen verharrt, und doch waren ihr keine weiteren Bilder erschienen. Aber Graine, der die Götter Visionen schenkten, die in ihrer Klarheit noch weit über das hinausgingen, was die Träumer von Mona zu sehen vermochten, zog es vor, das, was sie gesehen hatte, mit niemandem zu teilen - stattdessen richtete sie ihre Gedanken auf die verlorenen Schlachten des vergangenen Sommers.
Airmid wusste, sie konnte Graine nicht zum Sprechen zwingen; ein von den Göttern berührtes Kind durfte nicht gedrängt werden. Sie wischte die Hand an ihrer Tunika ab und sagte betont ruhig und gelassen: »Die Götter wissen mehr als wir darüber, wie die Dinge sich am besten arrangieren. Wir können nur beten, und wir müssen sogar beten. Aber trotzdem wird uns nicht alles, worum wir bitten, gegeben werden.«
»Nein, denn ansonsten hätten die Römer sich schon vor langer Zeit wieder eingeschifft und wären zurück nach Hause gesegelt.«
»Du hast Recht. Aber so ist es schon immer gewesen, und so sollte es auch bleiben. Wenn uns jede Bitte erfüllt würde, dann würden wir überheblich werden und eines Tages um zu viel bitten.«
Graine dachte eine Weile nach, dann fragte sie: »Wäre das denn wirklich so schlimm?«
»Das könnte es werden«, entgegnete Airmid. »Ich denke, nach einer Weile würden wir aufhören, die Götter für das, was sie uns geben, zu ehren. Und dann wären wir wahrhaftig gottlos.«
»So wie die Männer aus den Legionen?«
»So wie einige von ihnen.
»Das wäre schlimm.«
Sie schwiegen einen Moment. Es hätte ein Tag sein können wie jeder andere. Sie aßen schweigend, bis die Nüsse aufgegessen waren. Anschließend brach Airmid einen der
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