Die Seherin der Kelten
schrumpeligen Äpfel zwischen ihren Händen entzwei und reichte Graine eine Hälfte. Er hatte einen kräftigen Geruch an sich, wie frisches Gras mit einer süßen, nussigen Note. Graine nahm das Stück entgegen, ohne hinzusehen. Ihr Blick war fest auf die Augen des Hasen gerichtet. Seine Augen waren offen und trübe, wie mit Staub überzogenes Wasser.
»Ich glaube...«, begann Graine, »vielleicht... vielleicht ist es ja so, dass Nemain uns manchmal einfach nicht helfen kann, egal, wie sehr wir beten? So wie ich auch dem Hasen nicht helfen konnte, egal, wie sehr ich das gewollt habe.«
Damit wurde die Botschaft des zwischen Pflöcken ausgespannten Fells und des abgetrennten Kopfes plötzlich klarer. Airmid wollte Graine tröstend an sich ziehen, unterdrückte ihren Impuls jedoch gerade noch und strich dem Kind stattdessen bloß eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn. Die Götter sprachen auf so viele verschiedene, oftmals nur schwer definierbare Arten zu den Menschen. Die Schulung eines Träumers bestand darin zu wissen, wie man ihnen dennoch lauschte. Hier, in der Gegenwart des Kindes, das Airmids eigenen Traum verkörperte, bebte Airmids gesamter Körper, während sie sich mit all ihren Sinnen auf die Stimme der Götter konzentrierte. Über sie flog eine Elster hinweg und stieß einen heiseren Schrei aus; laut hallte er durch die morgendliche Stille. Etwas leiser sprang eine Forelle aus dem Bach empor, klatschte ungeschickt auf die Wasseroberfläche und verspritzte dabei mehr Tröpfchen um sich, als es eigentlich nötig gewesen wäre. Und ein Frosch quakte, zu einer Zeit im Jahr, in der man für gewöhnlich keine Frösche mehr hörte.
Auf diese Weise warnten die Götter Airmid, ihre Worte mit Bedacht zu wählen. Zwanzig Jahre der Schulung auf Mona und die Hand voll von Jahren, die sie vor ihrer Ausbildung in den Diensten der älteren Großmutter verbracht hatte, halfen ihr, schließlich die passenden Worte zu finden.
Die Träumerin beugte sich vor und nahm die Hände des Kindes in die ihren. »Vielleicht hast du Recht. Vielleicht haben die Götter in Wahrheit tatsächlich keine Macht. Aber in jedem Fall ist der Hase Nemains Tier, und wenn er starb, dann, um zu Nemain zurückzukehren. Der Tod ist nichts Schlimmes - wenn er zum richtigen Zeitpunkt eintritt. Daran musst du dich stets erinnern. Im Übrigen bist du ja auch kein Gott, sondern lediglich ein weiteres von Nemains Geschöpfen. Genauso wenig, wie es in der Macht der Feldlerchen lag, dich davon abzuhalten, diesen Apfel hier zu essen, genauso wenig lag es in deiner Macht, den Tod des Hasen zu verhindern. Es liegt einfach nicht in deiner Macht.«
»Dann meinst du also, der Hase ist gestorben, weil er sterben wollte? Ich glaube aber nicht, dass er sterben wollte.«
»Das glaube ich auch nicht. Und das habe ich auch nicht gesagt. Ich sagte, es könnte sein, dass er gestorben ist, weil der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war. Das Warum werden wir nie beantworten können. Aber vielleicht, wenn nicht Stone ihn gefangen hätte, der der Beste unter den Jagdhunden ist, und ihn mit einem kurzen, schnellen Biss getötet hätte, vielleicht wäre dem Hasen dann zu einem späteren Zeitpunkt etwas viel Schlimmeres zugestoßen; ein Adler hätte ihn zum Beispiel fangen und zerreißen können, um damit seine Jungen zu füttern; oder ein Fuchsjunges, das noch nicht gelernt hat, schnell und sauber zu töten, hätte den Hasen vielleicht verkrüppelt irgendwo liegen lassen, und im Winter wäre er dann an Hunger gestorben. Oder vielleicht war es für den Hasen auch einfach nur an der Zeit, zu Nemain zurückzukehren, die sich um ihn kümmert. Wir, die wir keine Götter sind, können solcherlei Dinge einfach nicht wissen.«
»Aber Nemain weiß das?«
Airmid nahm sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken. Die Hände, die sie mit den ihren umfangen hielt, waren erst kalt geworden und dann unnatürlich heiß. Sie drehte sie herum, musterte die abgeknabberten Fingernägel mit dem immerwährenden Halbmond aus Schmutz unter den Rändern. Doch schon holte der eindringliche Blick aus grauen Augen Airmid wieder zurück in die Gegenwart.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie schließlich. »Wirklich, ich weiß es nicht. Aber ich denke, wir müssen das einfach glauben, weil es sonst gar nichts mehr gibt, woran wir noch glauben können. Aber vielleicht ist das ebenfalls falsch. Vielleicht ist es auch einfach nur so, dass der Hase gestorben ist, weil du beschlossen hattest,
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