Die Seherin der Kelten
langem hatte sie bloß noch das Eichenholz des Pfahls vor ihr wahrgenommen, zuletzt nicht einmal mehr dieses. Der Schweiß brannte ihr in den Augen, das Licht schmerzte sie sogar regelrecht, nicht einmal blinzelnd ertrug sie es mehr. Die Dunkelheit war eindeutig die bessere Alternative. Und dennoch war dies eine neue Art von Schmerz; zwar noch eine weitere Schicht auf den bereits zahlreichen Ebenen ihres Leids, aber immerhin eine, die sie zu lindern vermochte, wohingegen sie ihren anderen Qualen hilflos ausgeliefert war.
Denn nichts konnte den Schmerz in ihrem Rücken lindern, in ihren Schultern, ihren Armen. Auch das bloße Atmen schmerzte bereits, ebenso wie nicht zu atmen. Was sie noch nicht herausgefunden hatte, war, ob das Schreien irgendeinen Unterschied machte, doch schon bald würde sie auch dies in Erfahrung gebracht haben. Bereits ganz zu Anfang hatte ein kleiner Teil von ihr aufschreien wollen, sich wütend gegen das Entsetzen auflehnen, gegen die Erniedrigung, die Beraubung all ihres Stolzes; und doch hatte der Stolz damals noch den größeren Teil ihres Selbst ausgemacht und hatte es folglich nicht zugelassen, dass sie schrie. Nun aber verlangte es sie fast nur noch nach Erleichterung, und lediglich der winzige, noch nicht zerstörte und doch bereits im Schrumpfen begriffene Kern ihres Wesens ließ sie weiterhin stumm bleiben.
Schon bald würde sie endgültig zusammenbrechen, aber noch nicht sofort. Noch nicht jetzt. Noch nicht jetzt. Die Stimme in ihrem Kopf, die einst noch zumindest zum Teil ihre eigene Stimme gewesen war, war nun gänzlich zu der der Träumerin der Ahnen geworden. Und diese wiederholte immerfort die Litanei.
Noch nicht jetzt. Das hier ist erst der Anfang. Der Rest wird noch viel schlimmer werden; also beschwör ihn nicht schon vorzeitig auf dich herab.
Breaca konnte sich gar nichts Schlimmeres vorstellen. Das hier war doch bereits mehr, als sie noch ertragen konnte. Sie öffnete den Mund, atmete die heiße, von Schweiß erfüllte Luft ein und...
Noch nicht!
Breaca schloss den Mund wieder. Der Schweiß und der alte Speichel ließen sie würgen, und irgendwo lachte irgendjemand. Da erinnerte sie sich wieder daran, dass sie sie schließlich sehen konnten, und für einen Moment stützte sie ihr Gewicht auf ihre Beine, nicht ihre Arme, drückte die Stirn gegen das Eichenholz und ließ dieses Gefühl gegen den fast schon betäubenden, Übelkeit erregenden, sie mit Blindheit schlagenden endlosen, endlosen, endlosen Schmerz ankämpfen.
Ein Blitz schien durch ihre Arme zu schießen, explodierte über ihrem Kopf, und sogleich vergaß Breaca ihr Gewicht wieder und ließ sich kraftlos gegen den Pfahl sinken. Und wieder fuhr der Blitz in ihren Körper, diesmal in ihren Rücken, fügte dem unendlichen Schmerz nur noch weiteren Schmerz hinzu, und plötzlich schien das Eichenholz verschwunden, schien auch die letzte Illusion von Sicherheit sich aufzulösen, und Breaca öffnete den Mund, atmete einmal tief ein …
Noch nicht!
… und schloss den Mund wieder.
Noch nicht jetzt. Dazu hast du noch viel zu viel Stolz. Du solltest mir besser einmal zuhören.
» Ich habe dir ja zugehört. Und ich bin in den Osten gereist, um dort das Kriegsheer anzuführen, genauso, wie du es mir befohlen hattest. Genau deswegen stehe ich nun hier.«
Wie ein eiserner Schraubstock lag der Torques um Breacas Hals. Sie hatte gedacht, der Prokurator würde ihn an sich nehmen; denn zweifellos hatte er ihn betastet, hatte seinen Wert geschätzt, ebenso wie auch Breaca versucht hatte, den Wert des Halsreifs zu bemessen: Wieder zu reinem Gold eingeschmolzen würde man damit eine komplette Zenturie an Männern die gesamten Sommermonate über entlohnen können, oder aber eine halbe Zenturie für...
Doch auch dieses Gedankenspiel verschaffte ihr keine Erlösung mehr von der Qual. Die Blitzschläge, die ihren Rücken malträtierten, erlaubten es nicht. Die Träumerin der Ahnen stand gleich neben ihr und schaute zu.
»Warum hast du mich angelogen?«, fragte Breaca. »Du hattest mir ein Kriegsheer versprochen, und die Freiheit.«
Nein. Ich hatte dir lediglich versprochen, dass ich bei dir sein würde, und das bin ich jetzt ja auch, und dass ich dir den Tod schenken würde, wenn du mich darum bätest. Bittest du mich darum?
» Nein. Niemals.« Es tat gut, sich über etwas anderes erregen zu können als über den Schmerz, ganz gleich, wie unsinnig dieser andere Anlass auch sein mochte. »Du gibst doch nichts umsonst, und ich
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