Die Seherin der Kelten
Roms wurde in Grund und Boden gestampft, und über ihm schwebte das Zeichen des Schlangenspeers …
»Breaca?« Airmid hatte ihr eine Hand auf den Arm gelegt. Auch Graine, die vor Breaca im Sattel saß, hatte sich umgewandt und blickte hinauf in das Gesicht ihrer Mutter. »Steigst du bitte ab? Wir brauchen dein Schwert und das deines Vaters. Sie müssen als Erste hineingelegt werden. Und Cunomar sollte mit reingehen, um zu sehen, wo sie abgelegt werden. Möglicherweise muss er sie eines Tages für dich dort wieder herausholen. Danach können auch die anderen eintreten, die Reihenfolge ist dann egal.«
»Du willst also wirklich, dass ich als Erste dort hineingehe?« Ohne Pferd und ohne Waffen in eine Schlacht zu ziehen wäre einfacher gewesen.
Airmid hob als Antwort lediglich eine Augenbraue. In ihrem Lächeln schien sich zugleich das Lächeln der Großmutter widerzuspiegeln. »Nein, da hast du mich wohl falsch verstanden. Die Ahnen haben nach deiner Tochter gefragt, und dafür sollten wir alle sehr dankbar sein.«
Breaca mochte ja vielleicht zuweilen vergessen, dass ihre Tochter eine Träumerin war, die Götter jedoch erinnerten sie stets aufs Neue daran. Während die Krieger also ihre Pferde angebunden und ihre Waffen hervorgeholt hatten, war Nemain am Rande des Himmels aufgestiegen und hatte ihnen den Weg gezeigt. Weiches Licht erhellte, was zuvor noch im Dunkeln gelegen hatte, und genauso, wie es verlangt worden war, schritt Graine nun voran. Der Mond verlieh ihrer Haut den Schimmer von Milch, und ihr Haar flammte auf wie dunkles Feuer. Sie konnte zwar kein durchgehendes Pferd zügeln, aber durch den Eingang zum Grab der Ahnen marschierte sie, als wäre der Hügel ihr Zuhause. Voller Bewunderung für den Mut ihrer Tochter folgte Breaca ihr mit einer Speerlänge Abstand.
Der Eingang war in Wirklichkeit sehr niedrig, so dass sie auf allen vieren hatten hineinkriechen müssen, sogar Graine. Im Inneren des Hügels war die Decke dann hoch genug, dass Breaca nur ein wenig den Kopf und die Schultern einziehen musste; Ardacos konnte sich fast ganz aufrichten. Hier schloss sich der von Hand behauene Fels auf beiden Seiten noch wesentlich dichter um sie, als es in der hoch aufragenden Höhle der Träumerin der Ahnen der Fall gewesen war, und abgesehen von einer Stelle unmittelbar am Eingang war das Felsgestein trocken. Die Linien der auf Schulterhöhe in Reihen eingemeißelten Zeichen waren noch so klar zu erkennen, als wären sie gerade erst in den Fels gehauen worden. Es roch nach altem Staub und Knochen und trockener, fein zermahlener Erde, und der Geruch kitzelte in der Nase, so dass die Krieger einer nach dem anderen niesen mussten. Graine und Airmid aber, die nicht auf den Staub reagierten, waren bereits vorangegangen und sprachen zu längst verstorbenen Wesen.
Und viel zu bald erklärte Airmid bereits: »Hier. An dieser Stelle verbreitert sich der Gang zu einer Kammer. Sie sollte groß genug für uns alle sein. Tretet langsam vor.«
Doch sie kamen ohnehin nur langsam voran. Die Fackeln, die von den Träumern getragen wurden, waren aus Gräsern, Kiefernharz und Schafsfett gefertigt, und der Rauch, den diese abgaben, erfüllte den gesamten schmalen Durchgang. Unruhig flackerten die Fackeln in der Grabkammer und tauchten die blassen Gesichter in ein bernsteinfarbenes Licht. Fünf Erwachsene und Cunomar schlossen sich, mit den Gesichtern zur Mitte hin gewandt, in zwei Kreisen um Graine. In den Wandnischen lagen die zu Staub zerfallenen Überreste der Toten. Ihre Stimmen spien den Besuchern Warnungen entgegen, in denen sie von Tod und verlorenen Seelen kündeten.
Mit scharfer Stimme sprach Airmid: »Ich bringe euch das Kind Nemains; seht ihr es denn nicht?« Nun nahm das Geflüster und Geraune einen neuen Ton an und verstummte schließlich.
Graine stand vollkommen reglos da. Von der aus Harz und Talg gefertigten Fackel in ihrer Hand stiegen dunkle Rauchschwaden auf. In Wellen ergoss sich das Licht über ihr Haar, als ob Geisterhände es streichelten. Die Geräusche und die beinahe schon mit Händen zu greifende Bedrohung lösten sich auf. Breaca konnte in diesem Augenblick nur noch krampfhaft atmen und sehnte sich nach den überschaubaren Gefahren des Krieges zurück. Sie hörte ihre Tochter sagen: »Unsere Krieger lassen jetzt ihre Waffen in eurer Obhut zurück, damit sie sicher aufgehoben sind, bis wir sie wieder brauchen, um die Männer des Kampfadlers aus dem Land zu vertreiben.«
Graine sprach mit klarer
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