Die Seherin der Kelten
verändert. Seit er in den Osten gekommen war, hatte er in mehr als bloß in körperlicher Hinsicht an Größe gewonnen; tief drinnen in seiner Seele war er nun ruhiger, als der reizbare, nervöse Jugendliche es gewesen war, der seiner Mutter von der einen Küste bis hinüber an die andere gefolgt war und der sich den ganzen Weg über immer nur beklagt hatte.
Die Verheerungen des Winters hatten ganz sicherlich zu seiner Entwicklung mit beigetragen; niemand konnte die halb verhungerten Menschen ansehen, die Krankheit und Kälte schließlich gänzlich dahinrafften, ohne davon im Innersten berührt zu werden. Am meisten aber war Cunomars Wesen durch das Gefühl der Freundschaft geformt worden; und das Schlimme daran war, dass niemand schon früher erkannt hatte, dass Cunomar einfach nur Freunde brauchte. Auf Mona war er stets der Sohn der Bodicea gewesen, der als Gefangener nach Rom verschleppt worden war und sogar schon im Schatten seines eigenen Kreuzes gestanden hatte, aber dennoch lebend wieder zurückgekehrt war. Cunomar hatte also erfahren müssen, wie man ihn bereits als Halbwüchsigen zum Gegenstand von Heldenliedern erhob und ihn mit großen Augen musterte, während die anderen Jungen in seinem Alter ganz einfach nur ihre langen Nächte in der Einsamkeit erleben durften und schließlich als Männer zurückkehrten. Und keiner von ihnen, weder vor dem Ritual noch hinterher, mochte ihn seinen Freund nennen.
Die Eceni dagegen wussten nichts von dem Sohn der Bodicea, außer dass er ein Außenseiter war, und so war es nicht verwunderlich, als Cunomar sich mit einem anderen Außenseiter anfreundete. Eneit war ein drahtiger Junge mit dunklem Haar, und er war der Sohn von Lanis, der Rabenträumerin, die so geschickt die Versammlung der Ältesten aufgestachelt hatte, um Breaca wieder zurück zu ihrem Volk zu führen. Für seine jungen Jahre war Eneit bereits recht erwachsen - Lanis duldete keinerlei Kindereien bei den Menschen in ihrer Umgebung. Doch er war auch von einer unerschütterlichen Fröhlichkeit und hegte gegenüber niemandem einen Groll, und sogar Cunomars schlechte Laune war immer wieder und wieder an Eneit abgeprallt, bis sie sich schließlich von ganz allein verzog.
In der unerträglichen Langeweile des Winters war Cunomars langsames Auftauen also ein Funke der Hoffnung gewesen, für den Breaca täglich aufs Neue dankte. Cunomar war zwar noch nicht ganz so wie sein Vater und auch nicht wie Ardacos, den er sehr verehrte, doch er hatte dennoch genug von beiden in sich sowie einige Charakterzüge, die nur ihm zu Eigen waren, so dass Breaca ziemlich deutlich sehen konnte, was einmal aus Cunomar werden könnte, wenn die Götter ihm auch weiterhin die Zeit zum Wachsen und Gedeihen gewährten.
Den Kern seines möglichen späteren Wesens zeigte er bereits jetzt, während er sich vorbeugte, um die zerdrückte Masse aus zusammengefallenem Schnee und der darunter liegenden Leiche zu mustern. Nach einer Weile legte er die Hand über das tote Gesicht. Bleich wie Wachs rutschte die Haut unter seinen Fingern hin und her, und der Kopf fiel schlaff zur Seite. Dann ließ er sich auf seine Fersen zurücksinken und sagte: »Kein Opfer des Winters.«
Und das war noch eine maßlose Untertreibung. Selbst Ardacos hätte es nicht knapper formulieren können. Breaca lächelte und spürte, wie die von der beißenden Kälte ausgetrocknete Haut ihres Gesichts zwickte. »Nein«, stimmte sie ihm zu, »kein Opfer des Winters. Und er wurde auch nicht wegen seines Reichtums oder seiner Waffen ermordet.«
Denn der Fremde war nicht unbewaffnet gewesen, als er starb. Direkt neben ihm lag sein Messer und ein kleines Stückchen weiter entfernt auch sein Speer. Vielleicht hatte er sie sogar beide zu seiner Verteidigung eingesetzt, aber offensichtlich ohne Erfolg, denn zum Zeitpunkt seines Todes waren die Klingen der Waffen sauber entzweigebrochen, und die beiden Hälften jeder Waffe lagen nun jeweils ein Stückchen voneinander entfernt, wobei die Spitzen umgedreht waren, so dass sie in Richtung des Hefts zeigten. Jemand musste sie also - immer vorausgesetzt, man ging nicht einfach von einem sehr unglücklichen Zufall aus - genau so arrangiert haben.
Breaca nahm die beiden Einzelteile des Messers auf und legte sie an ihr jeweiliges Gegenstück, so dass die Waffe schließlich wieder ganz war. Es war bereits zehn Jahre her, seit die Römer ihre Rache über die Dörfer der Eceni hatten hereinbrechen lassen und, um ihren Sieg über den Stamm zu
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