Die Seherin der Kelten
darauf gelenkt. Ganz still saß sie da, lauschte konzentriert, und plötzlich sah sie, vielleicht, weil sie sich so stark konzentrierte, die hauchfeine Wolke, die nicht mehr war als eine leichte Verdichtung der Luft und die sie mittlerweile zu erkennen gelernt hatte. Es erstaunte sie also nicht, als sie im hinteren Teil der Schmiede schließlich die alte Frau sitzen sah, welche nicht durch die Tür eingetreten war.
Doch das Erscheinen der Frau war kein gutes Zeichen. In der Hoffnung, dass sie vielleicht wieder verschwände, sagte Graine: »Ich glaube nicht, dass ich die Speere so hören kann wie du. Ich habe gesehen, wie du die Klingen ausgehämmert hast, und jede von ihnen hat ihren ganz eigenen Rhythmus, und du bist ein Teil davon. Und ein Krieger, der die zu ihm passende Klinge gefunden hat, wird sie bestimmt hören können. Ich aber kann nur das Holz hören, nicht die Klingen, und was ich in dem Holz höre, ist etwas anderes.« Ihre Mutter schaute auf und lächelte, sagte aber kein Wort über die alte Frau, die auf dem Stapel von Häuten neben der Werkbank saß, so dass Graine schließlich bemerkte: »Die Ältere Großmutter ist hier.«
»Ist sie das?« Breaca lehnte sich zurück und zog so mit ihrem eigenen Gewicht den Golddraht des gerade in der Entstehung begriffenen königlichen Armreifs aus. Nun lächelte sie nicht mehr. »Gibt es einen Grund dafür?«
Wenn der Geist der Großmutter erschien, so gab es dafür immer einen Grund. Schon einmal war Graine die Übermittlerin einer Nachricht von den Großmüttern an Breaca gewesen, und diese Nachricht war nicht sonderlich freudig aufgenommen worden. Damals nämlich hatten die Ahnen nicht etwa ihren Vater wieder aus Gallien nach Hause geschickt, so wie man sie gebeten hatte, sondern den Verräter-Bruder, der sich Valerius nannte.
Graine wollte nicht an einem weiteren Treuebruch teilhaben. Sie blickte kurz zu der Großmutter hinüber und ebenso rasch wieder zurück, genauso, wie Airmid es sie gelehrt hatte. Auf diese Art wahrgenommen, war die alte Frau nämlich genauso real wie Breaca, ein uraltes, verschrumpeltes Überbleibsel aus der Vergangenheit, das sich in die Ecke der Schmiede drückte, gekleidet in ihr bestes Zeug, als ob sie sich für eine Ratsversammlung zurechtgemacht hätte, mit einem Fuchspelz, der ihr wie ein Umhang den Rücken hinabhing und an seinen Enden mit kleinen Goldstückchen und Adlerfedern beschwert war, sowie zwei Krähenschwingen, die nach vorn über ihre schlaffen Brüste ragten und sich über der Vertiefung ihres Brustbeins berührten.
Zu ihren Lebzeiten war die Großmutter sowohl der sprichwörtliche Nagel zu Breacas Sarg gewesen als auch der größte Segen in ihrem Leben, und davor wiederum Last und Geschenk in einem für Airmid, damals, in jenen Jahren, in denen sie beide der vom Alter blind und gebrechlich gewordenen Großmutter als Augen und als Glieder gedient hatten. In ihrem Tod hatte die Großmutter die spätere Bodicea durch deren drei lange Nächte der Einsamkeit geführt und war seitdem regelmäßig in den Augenblicken der Not wiedergekehrt, um Breaca den Weg zu weisen. Und sie war es auch gewesen, die Breaca vor nicht allzu langer Zeit zu der Träumerin der Ahnen geführt und ihr aufgezeigt hatte, wie sie den römischen Gouverneur vernichten könnten; jene Hinrichtung, die so schreckliche Folgen für sie alle gehabt hatte. Seitdem war die Großmutter eher Graine erschienen als Breaca. Dies war das erste Mal, dass sie sich zeigte, während Breaca und Graine beide zugegen waren.
Misstrauisch blickte Graine sie an. Die Großmutter grinste. Deutlich ließ sie ihre Stimme erschallen. Sag deiner Mutter, dass sie aufhören soll, ihre Zeit damit zu verschwenden, Klingen zu schmieden für ein Kriegsheer, das noch gar nicht existiert.
Graine starrte auf den Boden. »Warum kannst du ihr das nicht selbst sagen?« Sie stellte ihre Frage aber nicht laut. Breaca beobachtete Graine, vermied es dabei jedoch angestrengt, in die gegenüberliegende Ecke zu blicken.
In Graines Kopf ertönte das Lachen der Großmutter. Deine Mutter hat entschieden, mich nicht hören zu wollen. Sie hat sich vor uns verschlossen und meint, dadurch wäre sie jetzt stärker geworden. Sag ihr, sie soll einen Satz Speere nach Art der Kaledonier anfertigen und sie als Geschenk für den Gouverneur nach Camulodunum mitnehmen. Das wird ihn stärker beeindrucken als ein Armreif, der demjenigen, der ihn trägt, ja doch keine Macht verleiht.
Breaca ließ den Golddraht
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