Die Seherin der Kelten
dann will ich die beiden mit hinausnehmen in den Wald und sie lehren, wie man auf die Gesänge der Speere lauscht, so dass sie ihre Speerprüfungen nicht völlig ohne Aussicht auf Erfolg antreten müssen. Aber das heißt ja nicht, dass wir nicht beides schaffen können. Wir dürfen den nächsten halben Monat lediglich nicht mehr schlafen oder essen oder auch nur irgendetwas anderes machen, als das Metall in Form zu schmieden. Und wir brauchen Airmids Hilfe; für dich allein ist das zu gefährlich. Denn die Reiherspeere der Kaledonier sind sowohl ein Traumwerk als auch ein Produkt der Schmiede.«
Das waren sie in der Tat, und es war ein sehr alter Traum, noch älter sogar als die Ältere Großmutter und die Träumerin der Ahnen, die beide erschienen, um bei der Herstellung behilflich zu sein. Den folgenden halben Monat hindurch arbeiteten sie also alle zusammen, und am Monatsende lagen auf der Werkbank ein Königsreif, mit dem Tagos vielleicht den Gouverneur in Camulodunum würde beeindrucken können, drei Reiherspeere mit silbernen Spitzen, eingewickelt in Wolle und in eine Kiste aus Eibenholz verpackt, die als Geschenk für ebenjenen Gouverneur dienen sollten, sowie zwei weitere Speere für Cunomar und Eneit, die ebenso ein Produkt des Träumens waren wie die kaledonischen Speerspitzen, den Traum aber auf eine andere Art bewahrten und ohne die geradezu fühlbare Verheißung des Todes.
XI
Nicht ein einziger Windhauch strich über die Lichtung. Fast unbeweglich hing der Strohsack bis auf jene Höhe hinab, wo das Herz eines Kriegers saß. Dreißig Schritte davon entfernt lag ein Speer, das Endergebnis von Breacas Schmiedearbeit in Kombination mit Graines Vision und ein klein wenig Unterstützung von Airmid. Die Speerspitze hatte die Länge von Tagos’ rechtem Fuß, gemessen vom Fußballen bis zum mittleren Zeh; längere Klingen waren nach römischem Recht nicht erlaubt. Das Speerheft bestand aus heller Esche. Es war so lange poliert worden, bis es einen matten Glanz aufwies und weich in der Hand lag. Das ausgleichende Gegengewicht am Speerende bildete eine Kugel aus knotigem Brombeerholz. Es war eine Waffe, mit der jeder Heranwachsende nur allzu gerne die Kriegerprüfung der drei langen Nächte der Einsamkeit angetreten hätte.
Breaca nahm den Speer vom Waldboden auf. Waagerecht auf ihren beiden Handflächen balancierend hielt sie ihn weit von sich. »Eneit, das hier ist deiner, er ist genau passend für deine Größe gearbeitet worden. Als der Ältere von euch beiden solltest du auch als Erster werfen. Wenn die Träumer euch den Tag für eure langen Nächte der Einsamkeit nennen, dann werdet ihr beide getrennt voneinander ausgeschickt. Die Götter und euer Traum werden euch wieder nach Hause führen. Solltet ihr aber beide zusammen zurückkehren, dann werdet ihr die Speerprüfungen nach eurem Alter geordnet beginnen. Du solltest also darauf vorbereitet sein, noch vor Cunomar anzutreten.«
Geradezu befangen angesichts dieser ersten Begegnung mit seinem neuen Speer, ließ Eneit seine Handfläche über das Holz gleiten. Lanis’ Sohn war in so vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Cunomar; sein Haar von der Farbe dunkler Eiche wuchs lediglich eine Handbreit hinab, so dass er es sich, selbst wenn das noch erlaubt gewesen wäre, niemals zu den an den Schläfen hängenden Kriegerzöpfen hätte flechten können. Sein breites Gesicht mit dem aufgeschlossenen Ausdruck war bereits von der schwachen Frühlingssonne gebräunt, so dass seine Augen, sein Haar und seine Haut alle von derselben Farbe zu sein schienen und lediglich unterschiedliche Schattierungen angenommen hatten.
Das Einzige, was Eneit in seinem Leben Kummer bereitete, war die Frage nach seiner Abstammung, doch er ertrug diese Sorge wie alles andere auch mit der aus seinem Inneren erwachsenden stillen Kraft. Lanis war eine Frau, mit der man sich besser nicht vorbedachtslos anlegte; und von Anfang an hatte sie ihrem Sohn jegliche Gesten der Auflehnung gegen den Feind untersagt, das galt ganz besonders für seine Bestrebungen, von Cunomar jene Fertigkeiten eines Kriegers zu erlernen, die ihn eines Tages zum Mann machen würden. Doch aus seiner Sicht war dies in erster Linie als die Vorschrift des Feindes zu verstehen und erst in zweiter Linie als die seiner Mutter, so dass Eneit keinerlei Gewissensbisse hatte, sich einfach darüber hinwegzusetzen; seine Zweifel hatten eine ganz andere Ursache.
Noch immer ganz gefangen genommen von seinem Speer sagte
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