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Die Seherin der Kelten

Die Seherin der Kelten

Titel: Die Seherin der Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manda Scott
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hochträchtigen Zuchtstute.
    Angefacht von neuen, in den Scharnieren noch etwas steifen Blasebalgen, wuchs das Feuer, bis es kleine Zweige verbrannte und schließlich ganze Holzscheite. Nach einer Weile fütterte sie es mit Holzkohle, bis die Flammen in seinem Herzen in der Farbe der Mittagssonne loderten. Das Eisen, das Breaca in den Glutherd des Feuers gelegt hatte, wurde langsam weich und weißlich und nahm, nach einiger sorgfältiger Bearbeitung, die Form einer Speerspitze an.
    Für den Rest des Monats verdrängten die Gerüche von glühendem Metall und brennendem Leder, von Holzkohle und Rauch, von Schweiß und Blut und Speichel die feuchten, irdenen Gerüche von Stein und Grassoden. Der Stapel von Roheisen hinter der Schmiede der Bodicea verwandelte sich mit immer größerer Geschwindigkeit in einen Haufen aus Speerspitzen, die nur noch auf ihre Hefte und ihre Krieger warteten.
    »Kannst du sie singen hören?«
    »Was?«
    »Die Speere. Kannst du sie singen hören?«, fragte Breaca Graine eines Nachmittags, als der Frühling in voller Blüte stand und die beiden allein in der Schmiede saßen.
    Dieses eine Mal waren die Feuer nicht entzündet worden; für ihre derzeitigen beiden Vorhaben brauchte Breaca kein Schmiedefeuer, und Graine war darauf ohnehin noch nie angewiesen gewesen, um ihre Schnitzereien anzufertigen. Schon früh hatten sie erkannt, dass die Tochter der Bodicea, obgleich sie wohl niemals eine Kriegerin werden würde, das Talent besaß, Muster und Formen in die Speerhefte zu schnitzen, die unmittelbar aus dem Holz selbst und aus Graines Visionen zu erwachsen schienen. Die Tochter der Bodicea war zusammen mit Lanis in den Wald gegangen, um die gerade gewachsenen Zweige und Äste zu schneiden. Später aber, als man ihr ein Messer gab, um einen von ihnen so weit zurechtzuschnitzen, dass er an den Hals einer der Speerspitzen passte, hatte Graine stattdessen die Silhouette eines Hasen ausgeschnitzt, der das Speerheft entlangrannte, umgeben von Spiralen und kleinen Kreisen, die mit den Knoten und Ausformungen des Holzes zu verschmelzen schienen, so dass, als Speerspitze und Heft schließlich zusammengefügt wurden, die Muster auf dem Heft und die Traumlinien in dem Metall sich aufs Vollkommenste miteinander verbanden.
    Seitdem arbeiteten Mutter und Tochter jeden Tag zusammen. Nach den Speeren hatten sie sich der Arbeit an den kurzen Häutemessern mit nur einer Schneide zugewandt, welche die einzigen anderen Waffen neben den Speeren waren, die das römische Gesetz noch erlaubte. Breaca hatte die Klingen hergestellt, und Graine hatte in Wachs oder Holz die Formen der Traumsymbole geschnitzt, die dann in Kupfer oder Bronze gegossen werden sollten, um das Heft des jeweiligen Messers zu bilden. In den vergangenen beiden Tagen hatten sie mit der Arbeit an einem noch größeren Projekt begonnen: der Herstellung eines goldenen Armreifs für Tagos, damit dieser deutlicher als König zu erkennen war, wenn die jährlich im Frühjahr stattfindende Versammlung der Delegierten der Stämme in Camulodunum auf den Gouverneur traf.
    Graine saß auf der festgestampften Erde, die den Boden der Schmiede bildete, und schnitzte einen Schlangenspeer, während Breaca vor ihrer Werkbank an der Rückwand des Raums stand und Draht, der bereits sehr fein war, noch weiter auszog, so dass man ihn später nach Art der Vorfahren zu einer Kordel drehen konnte.
    Breaca hatte ihre Frage mit sehr leiser Stimme und nach einer langen Periode des Schweigens gestellt, und Graine hielt inne, um über die Antwort nachzudenken. Halb fertig lag in ihren Händen der Schlangenspeer. Es war bereits der dritte, den sie anfertigte, und ein jeder unterschied sich ein wenig von seinen Vorgängern, ganz so, als ob Graine jedes Mal etwas mehr darüber lernte, wie er auszusehen hatte, aber noch nicht die vollkommene Form gefunden hätte. Neben ihr lag Stone, der gerade von einer wilden Jagd träumte, so dass seine Pfoten zuckten und seine Augen unter den geschlossenen Lidern wild rollten. Draußen flog ein Rotkehlchen heran und setzte sich auf den Rand eines Lederbottichs, beugte sich hinab, um etwas Wasser zu trinken, und flatterte dann wieder davon. Graine hörte den hohen Doppelton seines Rufes, sie hörte die Krähen, und aus der noch nicht ganz außer Hörweite liegenden Siedlung vernahm sie das Bellen eines Hundes.
    Und hinter alledem lag nicht etwa Schweigen - obwohl Graine das nicht aufgefallen wäre, hätte ihre Mutter nicht ihre Aufmerksamkeit

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