Die Seherin der Kelten
er: »Du weißt doch, ich habe noch nie einen Speer oder irgendetwas anderes in dieser Art geworfen.«
Jeder andere Junge hätte sich dieses Mangels an Erfahrung geschämt; Eneit aber sagte einfach nur die Wahrheit und erwartete keineswegs, dafür verurteilt zu werden. »Ich weiß«, entgegnete Breaca. »Wie solltest du auch? Es gab ja keinen Schmied, um die Klingen herzustellen und ihnen ihre Seele einzuhauchen, es gab auch keine Träumer, die das Speerheft hätten formen können, und niemanden, der dich die Fertigkeiten eines Kriegers hätte lehren können. Und dennoch hast du bereits die richtige Einstellung, um einmal ein Krieger zu werden; denk immer daran, dass das eine Prüfung des Herzens ist, nicht der Stärke oder der Geschicklichkeit. Einen Speer ein Stück weit geradeaus werfen kann jeder, darum geht es also nicht. Und jetzt nimm ihn. Ich werde es dir zeigen.«
Die Spitze von Eneits Speer war nicht der gestreckte Keil, den Breaca sonst schmiedete. Stattdessen war er von der Form eines flachen Blattes mit einem gleichmäßigen, von der Spitze bis hinab zum Hals der Klinge verlaufenden Schwung. Das Holz des Heftes war schön gerade gewachsen und glatt und gut ausbalanciert. Airmid hatte über dem Speer ihre Lieder erklingen lassen, und Graine hatte das Muster geschnitzt, das sich wie Salmschuppen bis zur Klinge hinabwand. Kein Lebender konnte diesen Speer in den Händen halten und sich nicht im Innersten davon berührt fühlen.
Eneit, der der Sohn einer Träumerin war, schwang sich sein neues Geschenk auf die Schulter und schnappte dabei unwillkürlich leise nach Luft, ganz so wie jemand, der unerwartet von seiner Liebsten berührt wurde, und damit wusste Breaca: Die Tage der Mühsal in der Schmiede und an der Drehbank waren es wert gewesen.
Schüchtern blickte er zu Breaca hinüber. »Danke.«
Es war leicht nachzuvollziehen, warum Cunomar diesen Jungen so gerne mochte; in Eneits Gegenwart wurde der Morgen plötzlich ein kleines bisschen wärmer.
Breaca lächelte. »Ich habe das wirklich gern gemacht. Nicht jeden berührt die Seele eines Speers gleich beim ersten Zusammentreffen. Aber das ist noch nicht die Prüfung. Du sollst ihn nicht nur spüren, sondern du sollst deinen Verstand zum Schweigen bringen, bis deine Seele gemeinsam mit dem Speer ihr Lied erklingen lässt, als wären sie eins. Und dann musst du ihn loslassen. Weißt du, wie man ihn halten muss, um ihn zu werfen?«
Bereits sein erster Versuch verlief recht gut, und Breaca zeigte ihm, wie man aufrecht stand, ohne dass es sonderlich Kraft kostete. Ganz automatisch hatte Eneit die linke Hand benutzt, so dass er auch seinen linken Fuß vorgeschoben hatte und der rechte Arm locker herabhing. Breaca ließ ihn durch leichtes Wiegen den Mittelpunkt des Speeres herausfinden, jenen Punkt, an dem der Speer, auf Schulterhöhe gehalten, schwerelos zu sein schien und das Endstück und die Spitze auf einer Ebene lagen.
»Gut.« Breaca trat einen Schritt zurück. »Und jetzt werden wir warten. Du brauchst erst einmal Zeit, um den Lärm deiner Gedanken zum Verstummen zu bringen, bis du den Gesang der Seele deines Speers hören kannst. Cunomar und ich werden einen Spaziergang durch den Wald machen, anschließend kommen wir wieder. Und dann werden wir wieder fortgehen, und noch einmal, bis du es schließlich nicht mehr wahrnimmst, ob wir gerade da sind. Ich sage dir, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist und du den Speer werfen sollst. Du zielst auf den Strohsack, aber du darfst nicht versuchen, den Speer nach vorne zu schleudern, sondern lass ihn einfach zum Endpunkt deiner Gedanken werden. Wenn dein Kopf frei ist und deine Seele eins mit der Seele des Speers, wird er wie ganz von allein fliegen und genau sein Ziel treffen. Du musst nichts bewirken. Bring einfach nur die Stimme deiner Gedanken zum Schweigen.«
Eneit grinste sie an. »Nur?« Er war Lanis’ einziger Sohn. Sein ganzes Leben lang beobachtete er seine Mutter bereits dabei, wie diese daran arbeitete, die Stimme ihrer Gedanken zum Schweigen zu bringen.
Breaca klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Das braucht in der Tat einige Übung, aber wir haben sehr viel Zeit. Wenn es heute nicht passiert, dann gibt es schließlich auch noch ein Morgen und ein Übermorgen und ein Überübermorgen. Versuch nicht, irgendetwas zu tun, versuch nicht, irgendetwas richtig zu machen, öffne dich einfach nur dem Lied des Speers.«
Auf Mona, als Kriegerin, hatte Breaca bereits Hunderte auf ihre
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