Die Seherin von Garmisch
ein kleines Mädchen. Die war noch ein Baby, als der
Unfall passierte. Die zieht die Kindel alleine groß.«
Schwemmer rief sich das Bild der Frau in Erinnerung.
Ja, da war Trauer in ihren Augen gewesen. Aber keine Resignation. Ihm war sie
wie eine Kämpferin vorgekommen. Ein Mensch, der Schicksalsschläge einsteckte
und dann wieder aufstand.
»Die vom Jugendamt wollten ihr die Kinder damals erst
gar nicht geben. Weil sie ja diesen Ruf hatte, nach dem Prozess.«
Schwemmer seufzte. In der Haut des Sachbearbeiters
hätte er auch nicht stecken wollen.
»Aber sie hat das doch irgendwie durchgedrückt«, sagte
Burgl. »Vreni betreut sie seit ein paar Jahren. Sie sagt, es hätte eigentlich
nie Probleme gegeben.«
»Auf den Buben sollte sie vielleicht mal ein Auge
haben«, sagte Schwemmer.
»Wieso?«, fragte Burgl neugierig.
»Ist halt ein schwieriges Alter«, sagte Schwemmer und
ärgerte sich über seine Bemerkung. Dass ein Siebzehnjähriger gelegentlich einen
Joint rauchte, machte ihn ja nicht zwangsläufig zu einem Fall fürs Jugendamt.
Solange es nicht zur Gewohnheit wurde.
Er hatte gerade den letzten Bissen Ente in den Mund
geschoben, als das Telefon im Wohnzimmer zu läuten begann.
»Ich würd ja«, sagte Burgl, »aber ich kann nicht.«
Schwemmer spülte die Ente mit einem kleinen Schluck
Crianza hinunter, dann stand er auf und ging ins Wohnzimmer. Die Nummer auf dem
Display war ihm unbekannt. Er nahm ab.
»Lortzig«, sagte eine tiefe Stimme am anderen Ende.
»Grüß Gott«, sagte Schwemmer, und es klang, als stünde
dahinter ein Fragezeichen. Lortzig hatte ihn noch nie privat angerufen, selbst
sein letzter Anruf im Büro war so lange her, dass Schwemmer sich nicht mehr an
den Grund erinnern konnte.
»Das ist mir recht unangenehm, Sie privat zu
belästigen, aber …« Lortzig räusperte sich umständlich. »Aber mir ist zu Ohren
gekommen, dass die Kindel bei Ihnen war.«
»Ja«, sagte Schwemmer. »Das hat ein bisserl arg
schnell die Runde gemacht. Schneller, als ich es mir gewünscht hätte.«
»Nun ja, Herr Kollege, aber das zeigt Ihnen schon, mit
was Sie es da zu tun haben. Wenn so etwas im Raum steht …«
»Was meinen Sie mit ›so etwas‹ ?« Schwemmers
Frage klang schärfer, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Aber nicht
schärfer, als er sie gemeint hatte.
»Ich meine, wenn Sie sich auf paranormale Phänomene
einlassen. Wenn es unwissenschaftlich wird.«
»Herr Lortzig, niemand hat sich auf irgendetwas ›eingelassen‹ .«
»Herr Kollege, wenn Sie nicht aufpassen, verlieren Sie
ruck, zuck die Kontrolle.« Lortzig klang durchaus nicht beschwichtigend, aber
Schwemmer hatte ohnehin nicht die Absicht, sich beschwichtigen zu lassen.
»Frau Kindel hat heute um ein Gespräch gebeten. Ich
hab mir höflich angehört, was sie zu sagen hatte. Und ich habe festgestellt,
dass es keine Grundlage für irgendwelche Ermittlungen gab. Das war alles. Hätte
ich die Dame rausschmeißen sollen?«
»Vielleicht. Ich habe Sie an meinem Haus vorbeifahren
sehen, heute Mittag, Sie und Frau Kindel. Nicht zufällig, sondern weil man mich
vorher deshalb angerufen hatte. Ich weiß auch, dass Sie der versammelten
Mannschaft die Leviten gelesen haben. Auch das hat man mir Minuten später
berichtet. So viel übrigens zur Wirkung Ihres Vortrags.«
»Worauf wollen Sie hinaus, Herr Lortzig? Ich weiß,
dass Sie im Haus immer noch gut vernetzt sind.«
»Herr Schwemmer, wenn ich das alles erfahre,
wer erfährt es noch? … Das wollte ich Ihnen zu bedenken geben. Lassen
Sie sich nicht mit der Kindel ein. Sie ist eine nette alte Dame und
wahrscheinlich sogar ein guter Mensch. Aber sie wird Sie in Teufels Küche
bringen. Einen schönen Abend wünsch ich Ihnen noch. Habe die Ehre, und
empfehlen Sie mich Ihrer Gattin.«
Lortzig legte auf.
Schwemmer knallte den Hörer auf die Gabel. Das fehlt
noch, dachte er. Er spürte einen Wutkloß im Hals.
Burgl sah ihn forschend an, als er die Küche wieder
betrat. »Was ist los?«
Er setzte sich, kopfschüttelnd.
»Das war der Lortzig«, sagte er.
»Was wollte der denn?«
»Mich vor der Kindel warnen.«
»Und deshalb ruft der hier an? Abends?«
Schwemmer zuckte die Schultern und griff nach seinem
Glas. »Als ob den das was anginge«, brummte er.
Burgl schob ihre Hand über seine und streichelte sie.
»Heh«, sagte sie sanft. »Jetzt lass dir aber von dem nicht den Abend
verderben.«
»Ja, ja«, antwortete Schwemmer und zwang sich zu einem
Lächeln. »Muss man vielleicht auch
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