Die Seherin von Garmisch
hörst?«
Severin zuckte die Schultern und holte zwei der vier
Flaschen aus dem Kühlschrank, die sie extra besorgt hatte. Sie griff nach dem
Messer, säbelte eine Scheibe Brot ab und begann, es mit Butter zu bestreichen.
Severin holte ihr ein Glas aus dem Schrank und schenkte ihr ein. Für sich
selbst beließ er es bei der Flasche.
Sie belegte das Brot mit ein paar dünnen Scheiben
Appenzeller und schob ihm den Teller zu. Dafür, dass er eigentlich nichts essen
wollte, griff er auffällig hastig zu.
»Was willst denn?«, fragte er kauend.
»Da Spacko, dei Freind, was machtn der so?«
»Machn? Was meinst damit?«
»Na, so überhaupts. Beruflich. Oder mit seine andern
Freind.«
Auf Severins Stirn bildete sich eine steile Falte.
»Was hastn immer mitm Spacko? Da hast heut früh schon
nach gfragt.«
»I hob nur wos ghört …« Sie wich seinem Blick aus und
trank von ihrem Bier. Es rann kühl und angenehm durch ihre Kehle, und sofort
glaubte sie, die Wirkung des Alkohols zu spüren.
» Was hast ghört?« Severin hatte noch nicht
getrunken. Er sah sie an, wach und aufmerksam.
»Dass er was vorhot. Drobn, an der Stroßn am
Grubnkopf, aufn Reschberg nauf.«
Severin setzte langsam die Bierflasche an. Er nahm
einen langen Schluck, dann stellte er die Flasche genauso langsam wieder ab.
»Was vor? Was meinstn damit?«, fragte er vorsichtig.
»I woaß a ned gnau. Wos Gefährlichs.«
»Da weißt mehr als i«, sagte Severin und starrte an
ihr vorbei. »Wer erzählt denn so an Schmarrn?«
»Kennst du ned. A oider Freind.«
Severin führte die Bierflasche wieder zum Mund und
nuckelte daran herum. Er schwieg lange.
»Hast wieder träumt«, murmelte er endlich, ohne sie
anzusehen.
Johanna wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie
hatte nie mit den Kindern über ihre Träume gesprochen, in der Hoffnung, sie von
all dem fernzuhalten. Aber sie hatten natürlich doch davon erfahren.
Das Mariandl, Theos Schwester, hatte es der Danni
erzählt, nicht böswillig, gedankenlos nur, nach der dritten Maß im
Festwochenzelt, was die Johanna doch mal für eine Berühmte gewesen ist, früher,
als sie noch geweissagt hat.
Severin war damals vier gewesen, als es den Prozess in
München gab, und ganz spurlos war der Trubel wohl nicht an ihm vorbeigegangen.
Irgendwer wird gewiss einem von Severins
Schulkameraden erzählt haben von der Kindlerin, die geträumt hat, dass der
Kugler Alois den Buben in Farchant erstochen hat.
» Hast träumt?«, insistierte Severin. Jetzt sah
er sie an, und sie konnte dem Blick ihres Enkels nicht standhalten.
»Jo. I hob träumt«, sagte sie und sah dabei die
Tischplatte an.
»Und was?«
»Da is oaner mit a Pistoln. Der derschiaßt eam.«
»Der schiaßt? Aufn Spacko?«
»Der schiaßt eam tot …«
Sie wagte nicht, ihn anzuschauen, rechnete damit, von
ihm ausgelacht zu werden. Aber von Severin kam kein Laut. Sie sah scheu zu ihm
hinüber. Er starrte nun die Decke an, und er hatte die Augen seiner Mutter.
Johanna konnte die Tränen nicht zurückhalten.
»Seve«, flüsterte sie heiser.
Er sah nicht zu ihr her. »Ja«, antwortete er nur.
»Irgndwos woaßt doch …«
Severin trank von seinem Bier. Dann senkte er den
Blick von der Küchendecke auf den Tisch vor sich und sah verwundert auf das
halb gegessene Käsebrot auf seinem Teller, als hätte er es noch nie gesehen.
Und als dann sein Blick zu ihr zurückkehrte, war er
anders, ganz anders, als sie erwartet hatte. Angst stand darin. Und etwas
Großes, was sie dort nicht erwartet hatte: Vertrauen.
»Der derschiaßt eam? Am Grubnkopf?«, fragte Severin,
ganz ernst, ohne jeden Spott.
»Jo.«
»Scheiß.«
Er nahm einen letzten Schluck aus der Flasche, dann
war sie leer. Er sah die Flasche an, irgendwie ratlos. Johanna stand auf und
holte ihm eine neue aus dem Eisschrank. Sie öffnete sie und stellte sie ihm
hin.
»Scheiß«, sagte er wieder und griff nach der Flasche.
»Du woaßt doch was! Ned?«
Severin schüttelte langsam den Kopf. »Wissen tu i
nix.«
»Aber wos denn ?«, flehte sie.
»Die ham was vor. Was, weiß i ned. I dacht, nur da
Schibbsie und da Girgl. Dass da Spacko a, des hab i ned gwusst … Und wann?«
»Des woaß i doch ned«, sagte sie heftig. »Nie
woaß i des. Des is ja des Schlimme.«
Sie hatte die Papiertaschentücher aus ihrer
Kitteltasche gezogen und nestelte an der Packung herum, bekam sie nicht auf.
Tränen liefen ihre Wangen hinunter, und sie wischte sich mit dem Handrücken
über die Augen.
Severin beugte
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