Die Seherin von Garmisch
Inga und blieb neben ihm stehen.
»Du fühlst dich wohl als was Besseres, bloß weil
jemand mal um deine Hilfe bittet«, zischte sie.
Severin sah sie einen Moment an. Dann hielt er ihr die
gespreizte Hand hin. »Sprich zu der Hand«, sagte er.
Inga funkelte erst ihn, dann Silvie an, dann rauschte
sie davon.
Silvie lachte. »Hasta la vista, Baby«, rief sie ihr
hinterher. »Glückwunsch«, sagte sie dann und grinste ihn an. »Von der Zicke scheinst du ja geheilt zu sein.«
Severin grinste zurück.
* * *
Schwemmer stieg aus dem Streifenwagen und atmete tief
durch. Als er aufsah, bemerkte er einen großen Greifvogel, der über ihm
kreiste. Gelassen und desinteressiert nutzte der Vogel nahezu bewegungslos die
Thermik über dem Hang, um sich immer weiter in die Höhe tragen zu lassen.
Schwemmer gähnte ausgiebig. Die Ruhe und die Luft hier
oben waren Balsam für seinen geschundenen Schädel. Die Reschbergwiesen lagen in
der Nachmittagssonne unter ihm. Der Blick ging hinüber zu Königsstand und
Kramerspitz. Es wäre ein Bild wunderbaren Friedens gewesen, wenn nicht fünfzig
Meter weiter Dräger und seine Leute rings um den Holzlagerplatz mit der
Spurensuche beschäftigt gewesen wären.
Er rieb sich die Augen. Als er die Augen wieder
aufmachte, sah er Frau Isenwald auf sich zuschießen.
»Lieber Herr Schwemmer, wie geht es Ihnen? Was machen
Sie denn für Sachen?«
Mitfühlend musterte sie den Verband um seine Stirn.
»Geht schon wieder«, sagte Schwemmer nur.
»Schön, dass wir uns noch treffen. Ich war grad auf
dem Sprung zurück nach München.«
»Ja … wie schön …« Wenn Schwemmer das geahnt hätte,
wäre er natürlich eine Viertelstunde später gekommen.
»Haben Sie den Herrn Bredemaier schon kennengelernt?«,
fragte Isenwald.
»Flüchtig«, antwortete Schwemmer. »Können Sie mir
sagen, was der hier will?«
»Genau weiß ich das auch nicht, aber nach meinen
Informationen ist Bredemaier so eine Art Mann für besondere Fälle .«
»Dann hält Wiesbaden das hier also für einen besonderen
Fall ?«
»Scheint so«, antwortete Isenwald mit ziemlich
unschuldigem Augenaufschlag, den Schwemmer ihr nicht abkaufte.
»Und wie kommen die darauf?«, fragte er.
»Der Name Kindel ist schon noch ein Begriff, in
bestimmten Kreisen.«
»Bestimmte Kreise bei der Staatsanwaltschaft München,
klar. Aber der Name Kindel ist doch gestern erst gefallen!«
»Vorgestern«, korrigierte Isenwald.
»Aber vorgestern gab es überhaupt noch keinen
Anhaltspunkt …«
»Es gab eine ›mögliche Spur‹, das waren Ihre Worte, Herr Schwemmer«, fiel Isenwald ihm ins Wort.
»Und das reicht Ihnen, das BKA zu informieren?« Schwemmer bemerkte, dass seine Wunde
wieder zu pochen begann.
Isenwald hob beide Hände zu einer beschwichtigenden
Geste.
»Jetzt reden Sie doch erst mal mit dem Kollegen. Ich
glaube, man kann mit ihm auskommen.«
»Fragt sich nur, ob man mit mir auskommen
kann«, knurrte Schwemmer.
In Isenwalds Augen blitzte es auf. Schwemmer
vermutete, dass sie den Deeskalationsmodus ausgeschaltet hatte.
»Hat man eigentlich mittlerweile Ihre Dienstwaffe
wiedergefunden?«, fragte sie denn auch prompt.
»Noch nicht«, antwortete Schwemmer. Er ließ sie mit
einem »Pfüat Eane« stehen und ging den Weg hinauf zum Tatort.
Letztlich war die Isenwald ihm überhaupt keine
Rechenschaft schuldig darüber, wann sie wen über was informierte, und das war
Schwemmer natürlich klar. Aber die Feinheiten des Dienstweges waren ihm im
Moment egal. Er mochte es nicht, wenn unerwartet fremde Anzugträger in seinem
Revier auftauchten, besonders nicht, wenn er Kopfschmerzen hatte.
Dräger und seine Männer hockten in ihren weißen
Overalls auf dem Boden und drehten im Wortsinne jeden Stein um.
Dräger kam auf ihn zu, als er ihn bemerkte.
»So gut wie nichts«, sagte er bestens gelaunt. »Aber
eben nicht gar nichts.«
Er führte Schwemmer zu der Stelle am Wegrand, wo der
Abhang begann, und zeigte ihm am Rande einer winzigen, fast schon wieder
ausgetrockneten Pfütze den Abdruck einer Schuhspitze.
Schwemmer konnte seine Enttäuschung nicht recht
verbergen. Er hatte sich schon ein wenig mehr erhofft. Aber das war typisch
Dräger, der sich von so etwas im besten Sinne herausgefordert fühlte.
»Immerhin, dann haben wir schon mal seine Schuhgröße«,
sagte Schwemmer ironisch.
»Seine?« Dräger schüttelte missbilligend den Kopf.
»Ihr seid alle viel zu voreingenommen! Wieso redet ihr immer von ihm ?
Wieso nicht sie , Singular
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