Die Seherin von Garmisch
alter Herr tot ist, vermietet meine
Mutter nicht mehr. Wenn Sie mögen, können Sie da unterschlüpfen, bis sich hier
der Rauch verzogen hat.«
»Schleswig-Holstein …«, murmelte Johanna.
»… meerumschlungen«, ergänzte Bredemaier mit einem
warmen Lächeln.
»Wie muss i mir des nachad vorstelln, dort?« Johannas
Miene war mehr als skeptisch.
»Flach«, antwortete Bredemaier.
»Und dei Frau Muatter … was meint denn de dazu?«
»Mit der red ich schon.« Bredemaier schenkte sich noch
einen Scotch ein, es war der fünfte an diesem Tag, nach Johannas Zählung.
»Leck.«
Sie konnte es sich nicht vorstellen. Beim besten
Willen nicht. Manchmal sah sie im Fernsehen Filme, die an der Nordsee spielten.
Wo die Landschaft kein Ende nahm und irgendwie immer Nebel herrschte. Und ständig
das Meer drohte, über die Deiche zu kommen.
Sie wollte da nicht hin.
Aber das war höchstens die halbe Wahrheit. Sie wollte
hier nicht weg, gestand sie sich ein.
Theo und sie waren einmal für ein langes Wochenende in
Österreich gewesen. Es hatte ihnen gefallen, aber es hatte ihnen auch beiden
gereicht.
Das Bienerl hatte immer weggewollt. Sie war in ihrem
kurzen Leben an zehnmal mehr Orten gewesen als Johanna bis heute. Ihr graute
jedes Jahr vor der Forderung der Kinder, in Urlaub zu fahren. Unter Mühen
schaffte sie es Jahr für Jahr, sie in Jugendgruppen unterzubringen, mit denen
sie dann in die Welt fuhren oder flogen. Flogen! Allein die Vorstellung trieb
Johanna den Schweiß auf die Stirn. Sie saß dann allein zu Hause und hatte die
ganze Zeit nichts als Sorge, dass die beiden heil wieder heimkämen. Severin war
nun auch alt genug, allein zu fahren, und schon der Gedanke daran nagte an
ihren Nerven. Sie war richtig erleichtert gewesen, als er ihr mitteilte, für
Urlaub erst mal kein Geld mehr ausgeben zu wollen. Stattdessen suchte er sich
nun in den Ferien Jobs, um sich seine Instrumente kaufen zu können.
Und jetzt wollte dieser Bredemaier, dass sie sich mit
den Kindern in Leck verkroch. Schleswig-Holstein.
Aus Angst vor der Pressefreiheit.
Nein, dachte sie. Noch nicht. Theo wird mir sagen,
wann ich gehn muss.
FÜNF
Es war ein graues Licht, durch das der Adler sie
trug, die Sonne unsichtbar hinter gemächlich treibenden Wolkenfetzen, aus denen
immer wieder Nieselschauer fielen. Der Adler ließ sich treiben über den
bewaldeten Hang, dann kreiste er über einer Lichtung. Sie erkannte die Kapelle
und den Kreuzweg vom Ort herauf. Und sie erkannte den blassen, blonden Mann
wieder, der dort stand. Er war nicht allein, zwei andere waren bei ihm. Drei
Männer, unbeobachtet von anderen Menschen. Sie redeten. Der Adler ließ es sie
nicht hören. Sie redeten, dann gingen sie auseinander. Zwei der Männer, der
blonde und ein dunkler, arabisch wirkender, gingen den Kreuzweg hinab. Der
Dritte blieb an der Kapelle und musterte die Gedenktafeln dort. Er trug einen
teuren Mantel und einen eleganten Hut mit breiter Krempe, von der das
Regenwasser troff. Der Adler zeigte ihr sein schmales, hartes Gesicht, seine
kalten Augen, die vom Alter gefurchte Stirn. Dann flog er mit ihr davon.
* * *
Schwemmer saß betont aufrecht an seinem Schreibtisch,
aber die Zeitung, die vor ihm lag, hatte ihm den Morgen schon verdorben, bevor
er richtig angefangen hatte.
SATANISTEN-OMA GEHT
AUF PASSANTEN LOS
Darunter ein unscharfes Foto von Severin und Danni Kindel,
anscheinend auf dem Schulhof aufgenommen »von unserer Leserreporterin Miriam
Krußhoff«. »Severin K., Bassist der Satanistenband, mit seiner Schwester Danni.
Seine Großmutter attackiert Marktkunden mit Schlagstock«, lautete die
Unterschrift.
Von der Seherin zur Satanisten-Oma. Wenn das kein
Aufstieg war, dachte Schwemmer böse.
Frau Fuchs balancierte ein Tablett herein. Sie stellte
ein Stövchen auf seinen Schreibtisch, das sie umständlich anzündete, dann
schenkte sie Kräutertee in einen Becher und platzierte die bauchige, verchromte
Kanne auf dem Warmhalter. Das alles passierte in einer auf Schwemmer fast
ohrenbetäubend wirkenden Stille, dann schlich sie wieder aus dem Zimmer.
Schwemmer nahm widerwillig einen Schluck von dem
Kräutertee. Sein Blick fiel auf die Kanne, in deren Chromoberfläche sich sein
Gesicht spiegelte, rundlich verzerrt und aufgeblasen glotzte es ihn so
dümmlich-gutmütig an, dass Schwemmer ihm die Zunge rausstreckte. Das sah dann
wiederum so bescheuert aus, dass er tatsächlich lachen musste. Er nahm das als
gutes Zeichen.
»… attackiert Marktkunden
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