Die Seherin von Garmisch
Krußhoff, ich
verfluche dich!«
Reglos, mit erhobenem Arm blieb er stehen.
Die Mädchen waren verstummt. Eine, die links neben
Miriam stand, machte einen hastigen Schritt von ihr weg. Die auf der anderen
Seite bekreuzigte sich, und eine andere aus der Gruppe machte es ihr eilig
nach.
Als er leise bis zehn gezählt hatte, drehte er sich
gravitätisch um. Überrascht bemerkte er Silvie, die dicht neben ihm stand. Ihr
sichtbares Bemühen, ernst zu bleiben, machte es ihm auch schwer, aber es gelang
ihm, gemessen und feierlich zurück zu seinem Platz neben der Aulatür zu
schreiten.
Auf dem Schulhof, zumindest unter denen, die das Ganze
mitbekommen hatten, herrschte Verblüffung.
Aber keiner lacht, dachte Severin grimmig.
Silvie redete eine ganze Weile ernsthaft auf Miriam
ein. Als der Gong läutete, kam sie zu ihm.
»Das war jetzt nicht wirklich Latein, dein
Spruch da«, sagte sie.
»Latein kann i ned. Aber de Henna da drübn, de könnens
a ned. Was hast dene verzählt?«
»Sie wollten halt wissen, was du gesagt hast, und da
musst ich natürlich improvisieren. Ich hab gesagt, dein Fluch würde sie in den
siebten Kreis der Hölle bringen. Dann hat sie noch gefragt, wann, da hab ich
gesagt: im August. Weil du hattest irgendwas mit Augustus dabei, oder?
Jedenfalls: Respekt. Der Frau Schneider standen die Tränen in den Augen.«
»Im August? Warum ned. Da hats ja noch a paar Monat
hin.«
»Na ja, ich hab ihr nicht gesagt, in welchem August …«
Severin bemerkte die drohenden Blicke der Aufsicht.
»’s wird Zeit. Wir müssn.«
Sie nahmen ihre Taschen und gingen zum Eingang.
»Was meinst, würd dein Vater was springn lassn für an
Exklusivinterview mit’m Chef-Satanistn?«
Silvie sah ihn verblüfft an, dann begann sie zu
lachen.
» Das willst du machen? Ich werd nicht
mehr …«
»Was meinst? Geht da was?«
»Da geht einiges, Alter. Wir reden nachher drüber.«
Immer noch lachend bog sie in den Gang zu ihrem Klassenraum.
Severin sah ihr ein paar Sekunden nach, bevor er die
Treppe hochstieg.
* * *
Die alte Frau saß verschüchtert zwischen den
Polizisten und nestelte am Knoten ihres Kopftuches. Ab und zu murmelte sie ein
paar Worte in sich hinein.
»Sie meint, drei Schüsse gehört zu haben«, sagte
Oberwachtmeister Demski.
Demski war in Omsk geboren und mit seinen Eltern kurz
nach dem Mauerfall als Russlanddeutscher übergesiedelt. Die Kollegen waren
häufig froh über seine Dolmetscherdienste. Auch diesmal wäre es ihnen ohne
Demski nicht gelungen, wirklich zu verstehen, was die ängstliche Dame ihnen zu
vermitteln versuchte.
»Gestern Nacht in der Nachbarwohnung. Sie wollte
eigentlich sofort die Polizei rufen, aber ihr Mann hat es ihr verboten.«
»Warum?«, fragte Schafmann.
»Lebenserfahrung, würde ich vermuten«, antwortete
Demski. »Es gibt Länder, da freut man sich gar nicht, wenn die Polizei ins Haus
kommt. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob es wirklich Schüsse waren.«
»Und warum kommt sie jetzt trotzdem?«
»Sie hat heute Morgen an der Tür der Wohnung
Blutspuren entdeckt. Sie hat geläutet, aber es gab keine Reaktion. Dann ist sie
hergekommen. Sie bittet inständig, nichts ihrem Mann zu erzählen.«
»Wir werden sehen, was sich machen lässt«, sagte
Schwemmer. »Wer wohnt in der Wohnung?«
»Der eigentliche Wohnungsbesitzer, ein Herr Bretcnik,
ist seit einigen Monaten im Ausland«, sagte Demski. »Sie glaubt, er hat einen
Job in der Schweiz. Jetzt wohnt da ein Mann, der angeblich sein Vetter ist. Er
hat sich ihr als Petr vorgestellt.«
Schafmann und Schwemmer standen gleichzeitig auf.
»Demski, nehmen Sie ein ausführliches Protokoll auf«,
sagte Schwemmer.
»Wir müssen da rein«, sagte Schafmann. » SEK ?«
»Ja«, sagte Schwemmer. »Obwohl ich fürchte, dass es
überflüssig sein wird.«
Schwemmer behielt recht. Das SEK brach nach Vorschrift die Wohnungstür auf und
verabschiedete sich wieder, nachdem die gepanzerten Männer die drei Räume
überprüft hatten. In der Wohnung war niemand mehr, der sie hätte angreifen
können.
Aber im Durchgang von der winzigen Diele zum Wohnraum
hatten sie den regungslosen Körper eines Mannes gefunden. Er trug eine
dunkelbraune Jeans und ein schwarzes Lederjackett und lag auf dem Bauch. Neben
seiner linken Hand lag ein kurzläufiger, verchromter .38er Revolver mit
aufgeschraubtem Schalldämpfer.
Schwemmer und Schafmann waren vor der Wohnungstür im
Treppenhaus stehen geblieben. Sie konnten von hier den Körper und den
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