Die Seherin von Knossos
bis zu einer Höhe von zwanzig Ellen über dem Schiffsmast. Sie näherten sich der Durchfahrt, und Cheftu blieb der Mund offen stehen.
Zwei riesige Pylone mit eingemeißelten Greifern bewachten den Bogen, auf dem grün gekleidete Seesoldaten herumeilten. Y’carus ließ die Segel einholen, und die Ruderer verlangsamten ihren Schlag. Vor dem Durchgang hielten sie an, bis ein paar Seesoldaten an Bord gekommen waren, die mit Y’carus sprachen, unter Deck gingen und schließlich die Weiterfahrt erlaubten. Das Schiff zog unter dem Steinbogen durch, während zu beiden Seiten Seesoldaten salutierten. Dann waren sie hindurch und im blauesten, leuchtendsten Wasser, das Cheftu je gesehen hatte.
In seinem Kopf drehte sich alles; wer waren diese Menschen? Wo lag dieses Land?
»Das ist der Beginn des Meeres, in dessen Mitte die Lagune um Aztlan liegt«, meinte Y’carus an seiner Seite. Er reichte Cheftu ein kleines Brot mit einer Gemüsepaste darin. »Es ist die Therossee. Auf Aztlantisch heißt >Theros< Sommer.«
Y’carus rieb sich den Schweiß von der Stirn. »Ganz gleich, wie das Wetter anderswo ist, beim Segeln ist es ständig heiß. Die Sonne kocht uns auf dem Wasser.«
Immer mehr Inseln befleckten den Horizont.
Mit unübersehbarem Stolz wies Y’carus auf die verschiedenen Sippen hin. »Im Osten sieht man Kallistae. Der Berg am Rand der Insel ist der Berg des Apollo, eine der Stellen, an denen Apis seine Tempel hat. Im Westen -«, er zeigte mit dem Kinn dorthin -, »liegt Folegandros.« Cheftu nickte, korrigierte sich dann und schüttelte zustimmend den Kopf. Y’carus deutete geradeaus. »Siehst du das Gleißen am Horizont? Das ist die Pyramide der Tage auf Aztlan.«
Cheftu hätte sich beinahe verschluckt. »Pyramide?«
»Natürlich, was glaubst du denn, von wem ihr Ägypter das Pyramidenbauen gelernt habt?«
»Schon recht«, sagte Cheftu langsam.
»Und was ist da hinten?« Er wies auf den Horizont, wo der Himmel gleichmäßig grau war.
»Dort war Delos, die Stadt Arachne, die Sippe der Muse«, flüsterte Y’carus.
»Deine Familie?«
»Ja, und meine Geliebte. Sie wurde getötet.«
Cheftu senkte mitfühlend den Kopf. »Meine Sorge für dich«, sagte er auf Aztlantu.
Y’carus starrte ins Wasser.
»Es hat keine Vorwarnung gegeben«, murmelte er.
»Am schlimmsten ist es, wenn man nicht Abschied nehmen kann.«
Y’carus drehte sich um und sah ihn an. »Du klingst, als hättest du selbst erlebt ...?«
»Meine Frau«, erwiderte Cheftu knapp.
»Dann war die Sibylla .«
Cheftu biss die Zähne zusammen. Er konnte keine Reue für seinen Fehltritt empfinden; trotzdem schämte er sich dafür.
»Sie sieht ihr verblüffend ähnlich.«
»Dann war deine Gemahlin sehr schön.«
»Ja, und stark und klug und leidenschaftlich und froh -«
Seine Stimme brach. »Allerdings durfte ich noch von ihr Abschied nehmen.« Cheftu wandte den Blick ab und murmelte auf Ägyptisch vor sich hin: »Dann, in einem grausamen Schmerz, glaubte ich, uns werde noch einmal die Gunst gewährt, zusammen zu sein, nur um meine Hoffnungen in den Dreck getrampelt zu sehen. Buchstäblich.«
Y’carus antwortete nicht, sondern starrte geradeaus ins Wasser. »Wir auf Aztlan nehmen nicht Abschied, wir wünschen Kalo taxidi, gute Reise. Wenn die Toten reisen und dabei Prüfungen bestehen müssen, gibt es ihnen Kraft zu wissen, dass sie geliebt werden.« Es war still auf dem Meer, nur die Wellen rauschten um sie herum.
»Jetzt kommen wir in die Strömung, die uns in die Lagune von Kallistae tragen wird, von der die Insel Aztlan umgeben ist.«
»Eines begreife ich nicht.« Cheftu war dankbar, sich über etwas anderes den Kopf zerbrechen zu können als über Chloe und darüber, wie er sie mit Sibylla betrogen hatte. Sein Körper spannte sich an - am besten, er dachte überhaupt nicht mehr an Sibylla. »Wie wird Aztlan eigentlich regiert?«
»Von den Sippen. Jede hat ein Oberhaupt, und diese Oberhäupter kommen alle neun Sommer im Rat zusammen. Dort diskutieren und debattieren sie, um Richtlinien für Güter und
Dienste auszuhandeln, die dann für die nächsten neun Sommer gelten.«
»Regieren Männer und Frauen gemeinsam?«
Y’carus schüttelte den Kopf. »In den Augen der Sippen gibt es keine Geschlechtsunterschiede. Jedes Geschlecht hat einen eigenen Gott, jedes wird geboren und seiner Sippe anvertraut.«
»Geboren und seiner Sippe anvertraut?«
»Genau.« Y’carus atmete tief ein. »Du weißt wirklich nichts über uns, nicht wahr? Schon
Weitere Kostenlose Bücher