Die Seherin von Knossos
Augen zu treten.
»Sie lebt in einer Höhle, dicht unter der Oberfläche«, sagte Dion. »Sie glüht lila.«
»Dann sollte sie leicht zu finden sein«, überlegte Nestor.
Dion blickte auf die Tauchmuschel. Die Seeleute und Muschelsucherinnen verwendeten sie oft, doch Spiralenmeister wünschte, dass ein Mann aus der Sippe der Olympier diese Aufgabe - die Krabbe zu suchen - übernahm. Er behauptete, es handle sich um eine heilige Pflicht, die nur von einem Goldenen übernommen werden könne. Er wird paranoid auf seine alten Tage, dachte Dion. Man sieht ihm inzwischen jeden Sommer an, und noch einige dazu. Dion bemerkte, wie Nestor entsetzt auf die Muschel starrte, und erinnerte sich daran, dass Nestor nur ungern tauchte.
Och, das ist die Münze, die man dafür bezahlt, ein Goldener zu sein, mein Sippenbruder.
Die Tauchmuschel war etwa sieben Ellen hoch, aus Ton gebrannt und dazu bestimmt, an Seilen, die am Schiff befestigt waren, ins Wasser gelassen zu werden. Ein Taucher konnte in die Muschel hineinschwimmen, in ihrem Innern aus dem Wasser auftauchen, frische Luft einatmen und dann wieder hinausschwimmen. Die Muschel ersparte es den Schwimmern, beim Tauchen zu jedem Atemholen an die Oberfläche aufzusteigen. Posidios, das Oberhaupt der Sippe der Welle, arbeitete bereits an einer Muschel, die der Taucher bei sich tragen würde. Dion musste über die Erfindungsgabe seines Onkels grinsen.
Die einzige Gefahr bei der Tauchmuschel bestand darin, dass die Luft irgendwann aufgebraucht war und giftig wurde oder dass der Taucher zu lang unter Wasser blieb.
»Sie funktioniert, Nestor«, versicherte Dion lächelnd. »Du hast doch bestimmt schon einmal einen Becher in Wein oder Bier getaucht?«
»Schon, aber da wollte ich ihn voll und nicht leer wieder herausziehen«, antwortete er mit einem Zucken in den Mundwinkeln.
Dion lachte. »Soll sein.« Er kniete neben der riesigen Muschel nieder und deutete auf die Metallgewichte, die an einer Reihe von Löchern im Rand baumelten. »Diese Gewichte halten die Muschel im Wasser ruhig. In der Muschel wird das Wasser ein wenig ansteigen.« Er berührte eine Stelle an der Außenseite der Muschel, die sich etwa auf Nestors Brusthöhe befand. »Etwa ab dieser Höhe wird sich Luft befinden, die du atmen kannst. Dann kannst du wieder hinausschwimmen, weitersuchen, und wieder zurückkehren, um neue Luft zu holen.«
»Lass dir Zeit, wenn du an die Wasseroberfläche steigst.« Dion zog eines der Gewichte ab. »Dann nimmst du eines von diesen hier - sie ziehen dich nicht nach unten, aber sobald du sie löst, treibt die Muschel ein wenig weiter nach oben, und du bekommst Luft zum Atmen. Lass dir Zeit.«
»Was passiert, wenn ich mir keine lasse?«
Dion wandte den Blick ab. »Du wirst nicht tief genug sein, als dass dir etwas Ernstes passieren könnte.«
»Wie tief ist >tief genug«, fragte Nestor nervös.
»Wir lassen neben der Tauchmuschel ein Seil mit Gewichten ins Wasser, daran sind die Tiefen markiert. Tauch nicht tiefer als bis zum Seilende.«
»Ist das tief genug, um die Krabbe zu finden?«
»Da die Höhlen eher im flachen Wasser liegen, sollten dort auch die Krabben zu finden sein.« Dion lächelte. »Ich bin die ganze Zeit bei dir. Außerdem warst schließlich du derjenige, der sich irgendwo verstecken wollte, wo Vena dich nicht finden kann, um eure verflossene Liebe zu betrauern.«
»Ich hatte dabei eher an eine Taverne gedacht«, brummte Nestor.
Die Seesoldaten begannen, die Muscheln zu Wasser zu lassen. Nestor saß auf der Reling des Bootes und sah zu, wie Dion seinen Schurz, die Federn in seinem Haar und die vielen Bänder um seinen Arm abstreifte. Nur sein Siegel behielt er an. Dann zog sich auch Nestor aus, bis nur noch der Beutel um seinen Bauch hing.
»Deine Luftzeit hat begonnen, Herr«, sagte der Matrose, als die Männer ins kalte Wasser glitten.
»Bei den Hörnern des Stieres, ich kann nicht fassen, dass ich freiwillig so früh im Jahr baden gehe«, bibberte Nestor.
»Wir haben Kela bereits willkommen geheißen«, tadelte Dion. »Du führst dich auf wie ein kleines Kind.«
»Wir werden euch im Auge behalten, Herren«, rief ihnen der Seesoldat hinterher und deutete dabei auf den gefärbten Kork, der anzeigen würde, wo die beiden Männer schwammen. Dann reichte er ihnen zwei Bronzespiegel »für das Licht«.
Nestor behagte es gar nicht, nackt im Salzwasser zu treiben. Er fühlte sich bloßgestellt und von der Welt abgeschnitten. Er tröstete sich, indem er
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