Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Frank
Vom Netzwerk:
Kopfschmerzen und Nacktheit vergessen. »Zelos? Was will Patee-ras? Wo ist er?« Dion war überzeugt, dass der Goldene Stier vergangene Nacht auf dem Fest gewesen war, doch die Feste kamen ihm oft eher wie ein einziges langes Mahl mit kurzen Unterbrechungen vor als eine Reihe von Tagen.
    »Bade erst und zieh dich an«, riet sie ihm, während sie ihn aus der Kammer führte.
    Die Sonne hatte nur ein kleines Stück ihres Wegs zurückge-legt, als Dion glatt rasiert, frisiert und bekleidet aus seinen Gemächern trat. Selena saß in einem steinernen Sessel mit Wellenlehne, starrte aus dem Fenster und knabberte Nüsse, eine nach der anderen, wie in Trance. Ihre Augen wirkten riesig in dem bleichen Gesicht. »Selena? Schwester?« Sie drehte sich um, und er sah, dass der Bleiglanz um ihre Augen von Tränen verschmiert war und sich zornige Nägelstriemen über ihre Wangen zogen.
    »Es gibt sie nicht mehr, Dion«, erklärte sie mit brechender Stimme. »Die Sippe ist ausgelöscht.«
    Dion versuchte zu lächeln; bestimmt hielt sie ihn zum Narren. Noch ein Versuch, ihn dazu zu bringen, die Verantwortung für seine Sippe zu übernehmen und sich nicht mehr aufzuführen, als sei jede Frau seine erste Tempeltänzerin. Ein weiterer Versuch Dion zu überreden, von Daedalus und seinen verrückten Erfindungen abzulassen. Sein Erbe anzutreten, was bedeutete, dass er sich auf den Zuckergehalt der Trauben und die nötigen Mulchmengen für das Gemüse konzentrieren sollte; auf das Verhandeln und Verkaufen innerhalb des Imperiums. Und doch bekam er eine Gänsehaut. »Sag schon.«
    »Ich habe eine Nachricht gelesen, die an dich gerichtet war. Darin stand, dass alle Felder in Flammen stehen. Tausende von Häusern sind niedergebrannt, die Aquädukte sind zerschmettert und überfluten die noch brachliegenden Felder. Die Städte sind dem Erdboden gleich.«
    Langsam ließ er sich in einen Sessel sinken. Naxos.
    »Die Sippe?«
    Selena kaute auf ihrer Lippe und schüttelte lautlos den Kopf. »Begraben, von Apis verschlungen. Männer, Frauen, Kinder.« Sie hielt inne. »Das Oberhaupt ist tot.«
    Wie durch ein Prisma sah Dion den Menschen, der er bis dahin gewesen war, für alle Zeiten verändert.
    Mit schwindelerregender Geschwindigkeit wandelte sich das Dasein, das er bis zu diesem Augenblick geführt hatte, von
    Grund auf - wie in einem von Spiralenmeisters Experimenten. Einen Atemzug lang sah er sein ganzes Leben vor sich.
    Von Zelos gezeugt, die Mutter von Ileana gemeuchelt. Er als Säugling, in eine abgelegene Höhle auf Nysa gebracht, einer winzigen Insel vor Tinos. Die Wölfe, die ihn eigentlich verschlingen sollten, hatten ihn großgezogen. Sibylla hatte ihn gefunden, völlig verwildert, und ihn gezähmt. Reifer geworden, waren sie gemeinsam nach Kaphtor, Alayshiya, Troi, Hat-tai und noch weiter gereist. Er hatte sich allen Genüssen hingegeben, die er sich nur auszumalen vermochte. Schließlich war er nach Aztlan zurückgekehrt, wo er sich einverstanden erklärt hatte, die goldenhaarige Kassie zur Frau und das Siegel seines Ranges in Empfang zu nehmen.
    Ihr Tod hatte die eintätowierten Linien um Finger und Handgelenk zu bedeutungslosem Schmuckwerk reduziert. Der Tod seines Sohnes, eines winzigen Säuglings, dem die Kraft zum Atmen fehlte, hatte seinem Leben jeden Sinn genommen. Er hatte alles von sich gestoßen und sich wieder ganz den körperlichen Genüssen verschrieben. Am besten genoss man das Leben, solange es ging, denn das Ende war unbarmherzig, war seine Begründung. Zum Schluss behielt man nichts in der Hand. Seine Stellung als Oberhaupt der Sippe hatte sein Cousin Bacchi eingenommen.
    Und nun war »sein« Volk ausgelöscht, ein Begriff, den er seit Sommern aus seinen Gedanken gestrichen hatte. »Wie viele haben überlebt?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Wer hat uns das angetan?«
    Selena erhob sich. »Die Erde. Apis ist gesprungen und hat alles zerstört.«
    »Warum verehren wir einen so brutalen Gott?«, flüsterte Dion. Selena weinte lautlos. Er blinzelte und schnippte nach Trägern. »Ich fahre nach Naxos.«
    »Zelos wollte, dass du zuvor dies erhältst.« Selena nahm ein in Stoff gewickeltes Paket in die Hand. Mit klopfendem Herzen kniete Dion vor ihr nieder. Das schwere Gold kam ihm vor wie eine Fußkette. Das Siegel der Sippe des Rebstocks: sein Siegel, der Tag seiner Geburt, sein Geburtsrecht.
    »Dir sei das Leben, das Wohlergehen und der Reichtum der Sippe des Rebstocks anvertraut« sang Selena. »Ihr Blut sei deines; du

Weitere Kostenlose Bücher