Die Seherin von Knossos
Hauptmast errichtete Zelt, in dem sie die vergangene Nacht verbracht hatte. »Ich dachte, du hast vielleicht Hunger«, meinte er. Auf einem winzigen Tisch dampfte ein Festmahl, und schlagartig spürte
Chloe Bärenhunger. Doch bevor das erste Stück Brot ihre Lippen berührte, sah sie wieder die Hand vor sich, nach oben gestreckt, bettelnd, flehend . ohne Antwort.
Hätte ich noch mehr tun können?
Chloe legte das Brot beiseite und nahm den Wein entgegen, den Dion ihr reichte.
»Wir haben einen neuen Spiralenmeister«, sagte er.
»Imhotep hat seine Reise angetreten, und sein Nachfolger wurde vereidigt.«
»Niko?«
Dion grinste. »Nein. Der neue Spiralenmeister kommt nicht einmal aus Aztlan«, erklärte er in jenem Tonfall, in dem in allen Ländern und zu allen Zeiten Klatsch verbreitet wurde. Ein Model mit einer Nachmittags-Talkshow, verbesserte Chloe.
Als sie ihren Weinbecher geleert hatte, sank sie zurück in die auf dem Boden verteilten Kissen. Iii! Das fühlte sich gut an! Wenn sie jetzt noch ein Bad nehmen könnte .
»- also hat dieser Ägypter«, sagte Dion gerade.
Augenblicklich schoss sie wieder hoch. »Was für ein Ägypter?«
»Der, den Spiralenmeister zum Sippenoberhaupt ernannt hat! Hast du mir denn nicht zugehört?«
Das ist unmöglich, dachte sie. Frag nicht, du wirst nur enttäuscht. Das kann nicht sein, nicht in tausend Jahren!
O bitte, bitte ... Chloe schluckte und fragte angespannt: »Wie heißt er?«
»Iii, also nun heißt er natürlich Spiralenmeister, obwohl jeder ihn als ägyptischen Spiralenmeister bezeichnet, was aber ziemlich albern ist, denn schließlich wissen wir alle, dass auch Spiralenmeister Ägypter war, er hatte diese ägyptischen Tätowierungen, aber kein Mensch nannte ihn .«
»Wie heißt der neue Spiralenmeister?«
»Es ist irgendwas Ausländisches .«
»Wie?«
Dion schloss die Augen. »Ch . irgendwas. Ich habe die Nachricht eben erst erhalten. Wahrscheinlich hast du auch eine bekommen.«
Noch ehe Dion ausgesprochen hatte, war Chloe aus dem Zelt hinaus und verlangte nach den Botschaften, die ihre Vögel überbracht hatten. Mit zitternden Händen kramte sie in den winzigen Zettelchen, die an diesem Tag aus dem ganzen Imperium eingetroffen waren. Die Preise für Rindfleisch und Leder; Wetterberichte aus Hydroussa ... Sie hielt den Atem an, als sie die nächste Nachricht las.
»Nach Imhoteps Hinscheiden neuer SM Cheftu.«
O Gott. Cheftu!
Cheftu und Y’carus standen auf einem Balkon und blickten nach Norden auf das Meer.
Die Insel Aztlan war atemberaubend. Obwohl sie nach Norden, in Richtung des antiken Griechenlands gesegelt waren, war dies nicht das antike Griechenland. Dies war keine Kultur, von der er je gelesen hatte, außer möglicherweise in irgendwelchen Sagen. Was waren das für Menschen? Er hatte keine Ahnung, warum so viele ägyptisch anmutende Rituale, Symbole und Gebäude hier auftauchten. War Aztlan ein uralter ägyptischer Außenposten? Doch das ergab keinen Sinn, denn den Ägyptern lag vor allem daran, die Ma’at zu erhalten. Kein wahrer Ägypter würde danach streben, den Nil zu verlassen. Zum Erobern schon; zum Kolonisieren niemals. Cheftu fühlte sich müde bis auf die Knochen, befremdet durch dieses eigentümliche Land.
Obwohl er mittlerweile beinahe eine Woche hier war, fand er sich immer noch nicht zurecht. Das kommt vom Schlafmangel und von deinen sexuell bedingten Gewissensbissen, konnte er Chloe im Geist sagen hören, mit einem sardonischen Lächeln und einer hochgezogenen Braue. Bei den Göttern! Würde er je aufhören, an sie zu denken, sie zu vermissen? Sie floss in sei-nen Adern, und er fragte sich, ob er sich je von ihr befreien konnte.
Südlich von ihnen drängten sich Schiffe verschiedenster Größe und Bauart in der Lagune.
»Apis-Steine!«, sagte Y’carus unvermittelt.
Cheftu folgte seinem Blick und entdeckte zwei Schiffe am Horizont. Beide hatten rote Segel gehisst. »Ist das eine Nachricht? Was hat sie zu bedeuten?«
»Ein Goldener wurde verletzt.«
Ein Mitglied der Herrscherkaste, entsann sich Cheftu.
»Hier seid ihr!«
Die beiden Männer drehten sich um, und Cheftu zog die Stirn in Falten, als er Nestor wiedererkannte. Ohne sein pfauenhaftes Kostüm und Gebaren wirkte er ausgesprochen jung und tief besorgt. Y’carus kreuzte augenblicklich respektvoll den Arm vor der Brust, und Cheftu tat es ihm gleich. »Spiralenmeister?«
»Ja?«
»Posidios Olympi ist verletzt; er trifft eben ein.«
»Ich bin Seesoldat«, sagte
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