Die Seherin von Knossos
widerstrebte ihr, sich füttern zu lassen, doch mit gebrochenem linken Arm und der gerissenen Sehne im rechten Handgelenk konnte sie im wahrsten Sinne des Wortes nicht die Hand zum Munde führen. Fatima erklärte ihr, dass sie Besuch bekommen hätte. Cammy ließ sich von ihr das lange braune Haar kämmen und flechten.
Nach einem Klogang mit Fatimas Hilfe und einer Mundspülung kroch Cammy dankbar zurück ins Bett und pappte sich ein Lächeln an. Sie wünschte, man würde sie nicht besuchen. Sie hatte ein entsetzlich schlechtes Gewissen: Schon beim Anblick der aufgesetzten Tapferkeit in den Gesichtern ihrer Besucher zog sich alles in ihr zusammen. Sie war daran Schuld, dass sie nicht weiterarbeiten konnten.
Nach dem Vorfall mit dem Löwen hatte die ägyptische Denkmalschutzbehörde die Ausgrabungsstätte aus Sicherheitsgründen geschlossen. Wenn sich Camille nicht am Dach festgehalten hätte, wäre es vielleicht nicht eingestürzt, und sie alle könnten noch arbeiten. Doch auch noch so große Wenns änderten nichts an der momentanen Situation.
Zwar gab es Verhandlungen, die Ausgrabungsstätte wieder zu öffnen, doch man war hier im Nahen Osten. Zeit war ohne Bedeutung. Heute, morgen, nächste Woche, nächstes Jahr ... wer wusste das schon? Ein Dutzend Menschen wollten bestochen werden, damit sie ihrerseits ein Dutzend Menschen bestachen. Die Mühlen der Bürokratie mahlten nicht nur langsam, sie waren auch noch frisch installiert. Bis zu jenem fernen Tage, an dem sie eine neue Genehmigung erhielten, blieb die Ausgrabungsstätte in der östlichen Wüste versiegelt, über dem Brunnen lag ein Eisengitter, und drei Wachposten patrouillierten dort rund um die Uhr. Aus Angst vor einer Klage hatte die Universität alle Mittel zurückgezogen.
Jon war der Ausgrabungsleiter, dazu seit neuestem Löwentöter und Lebensretter. Wenn sie sich vorstellte, was dieser Löwe ihr hätte antun können, bekam sie eine Gänsehaut. Doch selbst als er nach ihr geschlagen hatte, hatte er seine Krallen nicht ausgefahren. Es war ein merkwürdiges Detail, das ihr erst im Nachhinein aufgefallen war. Wenn sie sich nur an andere Details erinnern könnte.
Brian, der Australier, trug immer noch einen weißen Verband um den Kopf, was seinem verwegenen Erscheinungsbild einen Stich ins Piratenhafte verlieh.
Clyde, ein begnadeter Fotograf und Zeichner, dessen Fähigkeiten an jene von Camilles Schwester Chloe heranreichten, stammte aus Carolina, Nord oder Süd. Blond und schlank, hatte er mit seinem sanften, freundlichen Akzent schon eine Hand voll Herzen gebrochen. Alle jungen Krankenschwestern wollten ihn heiraten, ihn aufpäppeln und ihm goldenhaarige Kinder schenken.
Lisa war außer ihr die einzige Frau im Team. Sie hatte sich auf Grabbeigaben der mittleren achtzehnten Dynastie spezialisiert, allerdings war sie auch in vielen anderen Kunstgegenständen aus der achtzehnten Dynastie bewandert. Nachdem sich abgezeichnet hatte, dass das Gewölbe aus der achtzehnten Dynastie stammte, war sie aus Kairo zu ihnen gestoßen.
»Wir haben dir was mitgebracht.«
Lisa legte ein Sensationsblatt auf Cammys Decke.
»Wenn Lachen wirklich die beste Medizin ist, dann wird dich dieser Artikel bestimmt heilen.«
»Verblüffend, was die Leute alles glauben, wenn es um Archäologie geht«, ergänzte Brian. »So ein Quatsch. Ein neuer >Fluch des Tutenchamunc.«
Clyde schlug die Zeitung für sie auf, und Cammy überflog, neugierig geworden durch das gepresste Schnauben und Kichern ihrer sonst so reservierten Gefährten, die Schlagzeilen, die von Elvis Presleys zweitem Leben und von sensationellen Liebestechniken der Außerirdischen berichteten.
»Gestattet ihr mir die Frage, woher ihr das hier habt? Wer von euch liest so was?«, fragte sie.
Jon wurde knallrot. »Meine Schwester schickt mir jeden Mist, solange nur das Wort Ägypten darin vorkommt. Mach schon, lies.«
Clyde schlug die nächste Seite auf, und Cammy starrte mit offenem Mund auf das Blatt.
ARCHÄOLOGE SPRICHT DURCH MAGISCHE STEINE ZU GOTT!, verkündete die Schlagzeile in riesigen Lettern. Es war nie ein gutes Zeichen, wenn in der Schlagzeile ein Ausrufezeichen stand. Der Artikel darunter klang nicht weniger aufgeblasen. »Renfrock Holmes, der echte >Indiana Jonesc, entdeckt die telekinetischen Geräte, mit denen auch Menschen Gottes Frequenz empfangen können!«, lautete der Untertitel.
»O nein, bitte nicht Renfrock«, flehte Cammy. »Wie der Typ jemals ein Diplom kriegen konnte, ist mir
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