Die Seherin von Knossos
Phoebus.«
Die Stimme erklang aus der Dunkelheit, mitten aus Phoebus’ wilden, schweißgeplagten Träumen.
»Einst lebte eine Frau von solcher Schönheit, dass sogar ihre Brüder sie liebten. Einer davon wurde ihr Gemahl, ein zweiter ihr Liebhaber. Ihr Gemahl war untreu - er fühlte sich unwiderstehlich zu allen neuen Frauen hingezogen. Er konnte nicht genug davon bekommen. Dadurch verhärtete er das Herz seiner Frau. Sie schwor sich, dass ihren Kindern niemals ein derartiger Schmerz widerfahren sollte.«
Die Stimme fuhr fort, tief und wohlklingend: »Als ihre älteste Tochter noch ein kleines Kind von drei Sommern war, brachte die Mutter sie zu einer verbannten Priesterin, die im Wald des Festlandes lebte. Dort ließ sie für den Preis einiger Edelsteine das Geschlecht des Mädchens herausschneiden.«
Phoebus warf sich auf seiner Liege herum und drückte die Hände im Schlaf schützend vor sein Geschlechtsteil.
»Es war ein winziger Schnitt, doch die Mutter wusste, dass sie dadurch dem Mädchen für alle Zeiten die Sehnsucht nach einem Mann genommen hatte.«
Er versuchte, die Augen zu öffnen, schaffte es aber nicht. Seine Glieder fühlten sich an wie aus Blei, und so war er dazu verdammt, eine Geschichte zu hören, deren Ende er lieber nicht erfahren wollte.
»Die Jüngste hatte weniger Glück. Bis das Mädchen fünf Sommer alt war, hatten sich die Ängste der Mutter vervielfacht; jede Vernunft war ihr entflohen. Das Mädchen hatte den Blick ihres Vaters auf sich gezogen, doch statt dessen Aufmerksamkeit mit väterlicher Zuneigung zu erklären, glaubte die Mutter, ihr Gemahl begehre sein eigenes Kind. Die Frau fürchtete, dass die Tochter die Rolle der Mutter einnehmen würde, wenn sie erst erwachsen wäre.
Die Priesterin im Wald war längst gestorben, dennoch musste sie etwas unternehmen, um in dem Mädchen jede Begierde abzutöten. Die Mutter wartete und schmiedete lange Pläne, denn der Sippenbruder des Kindes, der Thronerbe, war des Mädchens ständiger Begleiter. Er konnte verhindern, dass die Tat getan wurde.
Doch eines Tages wurden ihre Gebete erhört. Der Junge war fort.
Also holte die Frau ihre eigenen Klingen hervor und beschnitt das Mädchen. Doch der Schnitt schien ihr zu klein. Sie schnitt immer tiefer und tiefer, und schließlich nähte sie den Schnitt so weit zu, wie sie nur konnte. Das Kind blutete schrecklich, und nur dem Einschreiten einer Kela-Tenata war zu verdanken, dass das Mädchen nicht an vergiftetem Blut zu Grunde ging.
Daraufhin tötete die Mutter die Priesterin, um ihre Tat geheim zu halten.«
Phoebus spürte Tränen auf seinem Gesicht brennen und unsäglichen Schmerz in seiner Brust aufsteigen. Bitte, lass es eine andere sein, als er glaubte! Bitte, bitte, um Kelas Willen ...
»Jenes Mädchen war Irmentis; sie ist dazu verdammt, ihr Leben ohne eine einzige lustvolle Berührung zu führen. Darum tötet sie sich ganz langsam in den Armen eines grünen, heimtückischen Geliebten, der ihre Adern erfüllt und ihren Geist verwirrt. Ileana hat ihr das angetan; sie hat gemordet, sie hat verstümmelt, sie hat dich deiner Liebsten beraubt.«
Er zitterte vor Zorn, vor Angst, vor Ekel. Irmentis hatte nie die Kleider vor ihm abgelegt. Nie hatte er sie ohne ihre Tunika gesehen. Konnte das wahr sein? War das vielleicht der Grund, warum sie Dutzende Male reglos in seinen Armen gelegen hatte?
»Räche dich, Phoebus. Räche dich. Du wirst bald Hreesos, die Zeit deiner Rache dämmert schon.«
Er zischte, als er etwas über seiner Handfläche spürte. Seine Hand war nass, dann waren auch seine Lippen nass und blutverschmiert. »Schwöre Rache, Phoebus. Schwöre sie jetzt.«
Was auch immer seine Glieder und seine Zunge gefesselt hatte, hatte sich gelöst. Er murmelte seinen Racheschwur und spürte dann, wie sich seine klebrigen Finger um das Heft einer Klinge schlossen. Der Eides-Kuss ließ ihn stöhnen - welche Leidenschaft, welche Liebe, welche Lust! Er konnte den Kuss nicht tief genug erwidern.
Dann küsste er nur noch Luft. In seinen Laken vermengten sich Tränen, Samen und Blut.
Selena spürte, wie ihr Geist in die Hülle ihres Körpers zurückkehrte. Im flackernden Licht konnte sie die Maske des Entsetzens auf Sibyllas Gesicht erkennen.
»Wie konntest du das tun? Jetzt, wo er die Wahrheit weiß, wird er ihr niemals vergeben. Du hast Ileana Schutz versprochen; dazu bist du verpflichtet. Welchen Zweck verfolgst du damit, dass du diese Geschichte aufdeckst?«, protestierte
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