Die Seherin von Knossos
Sibylla.
»Nun wird Phoebus Ileana vernichten. So will es die Gerechtigkeit«, sagte Selena.
»Strebst du danach, ihren Platz einzunehmen?«
»Streben wir nicht alle danach? Wir alle nehmen an dem Wettlauf teil.«
»Er liebt Irmentis.«
»Ja. Sie liebt ihn auch, doch sie empfindet keinen Eros für ihn. Irmentis’ wahre Liebe gilt der Wildnis. Und ihrem Trank.«
»Trank?«
»Ach Sibylla! Für ein Orakel bist du manchmal schrecklich blind! Dem Trank, den Phoebus ihr zusammengebraut hat. Er lindert die Qualen, unter denen sie im Dunklen lebt.«
Sibylla blickte auf die ausgeklügelten Muster aus buntem Sand auf dem Boden. Ihre Augen wurden blasser, je mehr Mohn verbrannte und je kleiner ihre Pupillen wurden.
»Ileana ist die Muttergöttin; du stehst unter dem Eid, sie zu beschützen.« »Ganz recht.«
»Aber - untergräbst du damit nicht dein Gelübde?«
»Sie sollte sterben«, zischte Selena.
»Ich hätte geglaubt, der Tod sei als Antwort zu einfach«, widersprach Sibylla.
»Sie wird ungebadet sterben. Dann wird sie für alle Zeiten als Skia herum wandern.« Selena beugte sich über den Mohn und atmete tief ein. »Mit ihrem Tod wird sie erst anfangen zu ernten, was sie in diesem Leben gesät hat«, waren ihre letzten zusammenhängenden Worte.
13. KAPITEL
Pechschwarze Dunkelheit lag wie ein Mantel über der Nacht vor dem Rennen. Kela war inzwischen ein altes Weib, eben verblichen, das auf seine Wiedergeburt wartete. In dieser Schwärze würde das Rennen gelaufen, über felsige Hügel, durch gewundene Täler und schließlich über die Brücke bis auf die Insel Aztlan.
Es ist dunkel, ich bin barfuß, und mir sind ausgesprochen aggressive Frauen auf den Fersen, dachte Chloe. Was diesen Leuten fehlte, war ein olympisches Komitee. Es war verboten, zuzuschauen; Lampen und Wegweiser waren nicht erlaubt, Verstöße wurden mit Verbannung geahndet. Es ging hier nicht nur um eine Prüfung von Körper, Fähigkeiten, Temperament und Ausdauer, das Rennen war eine Suche nach der Psyche in den Schatten der Nacht.
Sie würden von kurz vor Mitternacht bis zur Morgendämmerung laufen. Zum Glück war es Sommer, die Nacht dauerte also nur sechs Stunden.
Sechs Stunden, so darfst du nicht denken, Chloe. Du kannst es schaffen. Du weißt wie. Du kannst es schaffen.
Sie wiederholte die Worte fortlaufend im Geist, während sie gleichzeitig ihre Dehnübungen machte. Die kühlere Nachtbrise bauschte den Rock ihres Gewandes auf und peitschte ihr Haar in Tentakeln gegen ihre Augen oder ihren Mund.
Ein letzter Stoffstreifen um ihre Stirn, ein prüfender Griff an ihren »BH«-Verband, und Chloe war bereit. Letzten Endes hatte sich der Wettkampf auf einen Vierfronten-Krieg zugespitzt: Selena, Vena, Sibylla und Ileana. Solange nur eine der Herausforderinnen - wenn auch möglichst nicht Vena - gewann, war alles in Ordnung. Damit würde Ileana abgesetzt.
Der Minos hatte seinen Stierkopf aufgesetzt und besprenkelte sie mit Duftwasser. »Bei der Schlange Kelas, möge das Gefäß der Göttin sich offenbaren.« Er löschte die Fackel, und sie liefen los.
Am liebsten hätte Chloe ihre Energie sofort eingesetzt und die Führung übernommen, doch sie dachte an Atenis’ Worte. Tempo finden, zurückhalten, entspannen, hochschauen. Die Nacht begann sich in Silhouetten tintenschwarzer Bäume vor einem blauschwarzen Himmel aufzulösen. Keine Sterne, kein Mond ... nur Stille und Dunkelheit und Sibyllas Körper.
Überdeutlich spürte sie ihr pumpendes Blut, die sich dehnenden, sich bewegenden Muskeln, das zum Zopf gebundene Haar, das ihr auf den Rücken klatschte, das leichte Schaukeln ihrer Brüste . Chloe erlaubte ihrem Geist, zur Ruhe zu kommen, nur noch ihrem Rhythmus zu lauschen, dabei neue Kraft zu schöpfen und sich auf den mentalen Aspekt des Rennens vorzubereiten.
Ihr Gewand war durchnässt; links vor ihr konnte sie beinahe Venas Silhouette ausmachen, deren milchweiße Haut in der Dunkelheit besser zu sehen war. Selena befand sich vor ihnen beiden, Ileana führte mit großem Abstand.
Die Schmerzen hatten bereits eingesetzt, und Chloe ging auf, dass es in dieser Hinsicht wie beim Sex war. Manchmal musste man sich anstrengen oder sogar ein wenig leiden, ehe das Vergnügen begann. Sie liefen bergab, und Chloe beschleunigte jetzt, wo die Erdanziehungskraft die meiste Arbeit erledigte. Mit plötzlichem Schwung zog sie an Vena vorbei und war gerade in einem kleinen Hain angelangt, als das Erdbeben einsetzte.
Chloe knallte gegen einen
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