Die Seherin von Knossos
Verschwinde Cheftu! Bitte nimm nicht gleich das Schlimmste an. Würde Cheftu sie erkennen? Entsetzt über diese Vorstellung, grübelte Chloe, wie sie sich wohl aus der Affäre ziehen könnte. Im wahrsten Sinn des Wortes.
Dion stützte sich auf einen Ellbogen hoch. »Wie hat dir unser blutrünstiges Ritual gefallen? Ich sehe Apis’ Segen nicht auf deiner Stirn. Leiste mir Gesellschaft.«
Chloe bohrte ihre Nägel in seine Flanke. Das war das Letzte, was sie jetzt brauchten.
»Ach, ich glaube, du hast den Schoß schon voll genug«, antwortete Cheftu eigenartig gepresst. Hatte er sie etwa erkannt? Bitte, lieber Gott, nein!
»Dion?«, rief eine andere Stimme aus der Dunkelheit.
Dion schoss hoch. »Ileana«, zischte er. »Nestor! Du musst sie ablenken. Tu so, als wolltest du sie verführen!«
»Sie ist meine Stiefmutter. Soll doch der Ägypter so tun, als wollte er sie verführen!«
»Verführen?«, wiederholte Cheftu.
»Verführen?«, wiederholte Chloe.
»Sie mit Tändeleien ablenken, was auch immer«, befahl Dion. »Ich muss diese«, - er zögerte -, »Nymphe fortbringen.«
Dion packte sie am Arm und riss sie hoch, wobei ihr Rücken den beiden Sippenoberhäuptern zugewandt blieb. Cheftu packte sie an der Schulter, drehte sie kurz um, und sie sah in seine Augen. Vergib mir, flehte sie. Versteh doch, was hier geschieht! Dion wirbelte sie wieder herum, dann waren sie im Garten verschwunden. Strauchelnd blinzelte Chloe ihre Tränen zurück.
Dion legte ein eindrucksvolles Tempo vor. Im Fummel hätte er Ileana problemlos schlagen und Phoebus heiraten können, dachte Chloe. Unter dem Blickwinkel der Fruchtbarkeit wäre die Sache allerdings eine echte Herausforderung ...
Im Dunkeln rannten sie weiß gekalkte, noch sonnenwarme Treppen hinab. Als ihnen ein einsames Pärchen begegnete, zog Dion sie in seine Arme und küsste sie.
Der Kuss erinnerte Chloe an damals, als sie sich - so hatte sie wenigstens geglaubt - vor dem Spiegel das Küssen beigebracht hatte. Dion löste sich von ihr, und gleich darauf hasteten sie unter der Halbmond-Nacht im Zickzack weitere Treppen hin-unter.
Meeresgeruch schlug ihnen entgegen, und Chloe verzog das Gesicht, als sie das Boot erblickte. Das kleine Boot. Das liebe kleine Zwergenboot. Es schaukelte im Wasser auf und ab, während Dion Chloe noch zuflüsterte, dass er bis zu ihrer Rückkehr ihr Sippensiegel behalten und ihr jeden Tag eine Nachricht schicken würde. Dann war Chloe unterwegs, gerudert von einer schweigsamen Alten mit eindrucksvollem Bizeps, die Chloe zischend zum Schweigen verdammte, bis sie sich in beträchtlicher Distanz zur Insel Aztlan befanden.
Der Wind war frisch und die Reise unglaublich. Chloe fühlte sich, als würden sie über den Unterweltfluss Styx rudern, so dunkel, so still war es in der Lagune. Zu beiden Seiten erhoben sich Felsmauern, und Chloes klaustrophobische Empfindungen wurden nur in geringem Maße durch ihre kaum bezwingbare Übelkeit gedämpft.
Das Schaukeln verschlimmerte sich noch, als sie in den offeneren Kanal südlich der Insel Aztlan gelangten. Chloe benetzte Stirn und Hals mit Meerwasser und bemühte sich angestrengt, nicht ständig an ihren rotierenden Magen zu denken.
Normalerweise wurde sie nicht reisekrank.
Sie war in Flugzeugen, Zügen und Autos gereist. Sie hatte in Frachtflugzeugen gesessen, auf Kamelrücken, in Tragflügelbooten. Kleine Ruderboote jedoch waren ihre Nemesis. Als Mama und Vater sie und Camille das erste Mal in ihren Unterschlupf auf Santorin mitgenommen hatten, hatten ihre Eltern es für ein Riesenvergnügen gehalten, dort Segeln zu gehen.
Statt wie alle Touristen eine Fähre zu nehmen, hatte Vater ein kleines Boot gechartert. Innerhalb einer Viertelstunde hätte Chloe, obwohl sie damals erst vierzehn war, alles dafür gegeben, ihren Hund, ihre geliebte Großmutter - Herrgott, sie hätte ihre Jungfräulichkeit dafür gegeben -, wieder von diesem Boot herunterzukommen. Erst drei Tage nach dem Anlegen hatte sich die Übelkeit wieder gelegt, und allein auf Grund dieser
Erinnerung hatte sie Santorin gehasst.
Die Frau ließ die Ruder sinken, fischte mit einer Hand unter dem Boot herum und zog schließlich einen Tontopf aus dem Wasser. Sie öffnete ihn und reichte ihn Chloe. Die hätte alles getan, um ihren Magen zu beruhigen, und trank. Es war süßer Wein, herb und rein. Er schmeckte nach Granatapfel. Die Frau schnalzte mit der Zunge, und Chloe reichte ihr den Topf zurück. Nach einem kräftigen Schluck - so viel zum
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