Die Seherin von Knossos
hatte er gehofft, sie würde sich ihm zuwenden, doch in jenem schattigen Hain ihres Geistes hatte ihre Psyche sich von ihm gelöst. Phoebus drängte an seinem Zorn vorbei, an der Liebe, die bereits zu Hass mutierte, der nächsten Erinnerung entgegen. Blut und ein Feuer, das sich durch Phoebus’ Adern gebrannt hatte, als Niko etwas auf ihn gegossen hatte.
Das Elixier?
Der Junge hustete, und Phoebus legte die Hand auf seine Stirn. Er war heiß, allerdings fühlte sich für Phoebus alles heiß an. »Du musst etwas für mich erledigen, Eumelos. Ich glaube, jemand will mir den Thron rauben, verstehst du?«
»Und selbst Goldener sein?«
»Genau.« Allein der Gedanke, dass Eumelos niemals seinen Thron erben würde, brach Phoebus beinahe das Herz. Er hätte jedes Opfer auf sich genommen, nur um dieses kluge Kind über Aztlan herrschen zu sehen. Das jedem von Ileana geworfenen Balg haushoch überlegen war. Er schauderte. »Geh zur Pyramide und suche den Minos. Geh erst wieder weg, wenn du ihn zu mir gebracht hast.« Er sah sich um. »Wo bin ich hier?«
»In den Höhlen unter Kelas Tempel.«
»Sag keinem außer Minos, dass ich aufgestanden bin, Eumelos. Niemandem. Schwörst du mir das?«
»Er ist gestorben, Pateeras.«
Er ist gestorben, und ich habe überlebt, dachte Phoebus. »Gleichwohl, bringe mir den, der jetzt die Minosmaske trägt.« Bestimmt hatte man doch innerhalb von fünf Tagen einen Nachfolger gefunden? »Schwöre es.«
Sie verhakten ihre kleinen Finger und schworen; für einen so kleinen Jungen war Blut zu viel verlangt. Doch die Bedeutung von Ehre und Ehrenwort konnte man gar nicht früh genug einüben. Phoebus küsste seinen Sohn auf den Kopf, versicherte ihm, dass es ihm gut gehe, und legte sich wieder auf die Bahre, wo er die fahlen Narben über jenen Wunden betastete, die eigentlich noch hätten bluten müssen.
Was war in diesem Elixier?
Zu Hunderten saßen die schmausenden Bürger über die Hügel von Aztlan und Kallistae verstreut. Die Sonne brachte die Pyramide der Tage zum Gleißen, und das tiefe Blau der Theros-see war von weißen Wellen gekrönt. Chloe lag entspannt auf ihrem Balkon in der Sonne und spürte, wie die Hitze sich über ihren nackten Leib stahl. Den ganzen Morgen hatte sie auf irgendwelchen Ratsversammlungen verbracht, eine ebenso anstrengende wie frustrierende Beschäftigung angesichts des unverständlichen Fachchinesischs, mit dem dort um Tiere gefeilscht wurde, und der bohrenden Lust, die sie empfand, wenn sie Cheftu nur ansah.
Hreesos’ Hinscheiden war ein peinlich gehütetes Geheimnis, darum wurde ihrem Gemahl die Thronfolge bis auf weiteres vorenthalten. Das einfache Volk wusste offiziell nicht Bescheid, auch wenn Chloe überzeugt war, dass es in der Gerüchteküche dampfte und brodelte. Der Ausbruch des Berges Krion war bis Aztlan zu sehen gewesen, deshalb waren die Konsequenzen kaum zu verheimlichen.
Der Tod des Minos war in aller Munde.
In der Schönheit der Sonne war eine allumfassende Zerstörung kaum vorstellbar. Eine Brise brachte ihrer Haut Erleichterung von der Hitze, und Chloe stellte sich vor, wie schön es wäre, Cheftu neben sich zu haben. Dösend lächelte sie vor sich hin.
Mit einem Schlag flogen überall auf der Insel laut kreischend die Vögel auf und kämpften um einen Platz am Himmel. Dann hörte sie es, ein tiefes Grollen, das ihr Brustbein zum Vibrieren brachte wie eine Bassgitarre. Sie lief an die Balkonbrüstung, von wo aus sie auf die Landbrücke und die dahinter liegende Insel schauen konnte.
»Der Stier brüllt!«, hörte sie jemanden schreien. Sie sah, wie die Menschen zum Meer hinrannten, Hunderte Ellen tief ins Wasser sprangen, den Zickzackpfad hinunterrasten oder sich in Boote quetschten, die so voll waren, dass sie auf der Stelle ken-terten.
Als der Balkon unter ihr zu beben begann, ging sie in die Hocke und kämpfte die aufsteigende Übelkeit nieder. Die Schreie ballten sich in die Luft, während Chloe sich auf den Boden kauerte, die Hände flach auf den bemalten Stein gepresst. Das Grollen schwoll zu ohrenbetäubender Lautstärke an, sodass sie schließlich den Kopf hob.
Jenseits des aufgewühlten Wassers, auf der Insel Kallistae, schien die Klippenkante zu erzittern, bis ein Abschnitt, auf dem sich die Menschen drängten, ins Meer hinunterkrachte. Eine menschliche Lawine.
Dann war alles still.
»Bürger!« Eine Stimme erhob sich über den Wind.
Chloe drehte sich um und sah mit abgeschirmten Augen zur Pyramide hin. Eine Gestalt
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