Die Seherin von Knossos
Klinge auf, schwor erneut und schmierte das Blut über seine Lippen. Ileanas heißer Mund attackierte ihn voller Begierde. Sie küsste ihn, bis ihm schwindelig wurde, und leckte dabei das Blut von seinen Lippen. »Erregt es dich zu wissen, dass Phoebus genauso küsst wie ich?«
Das erregte ihn. Wahnsinnig.
Sie drehte ihm den Rücken und löste ihre Röcke. »Jetzt, Niko.«
Gefangen zwischen Ekel und pulsierender Lust, drang Niko in sie, so wie er es über viele Sommer hinweg bei einem Dutzend Freunde beobachtet hatte. Ihre Hand führte ihn sicher, und neunzehn Jahre der Abstinenz ließen es eine recht kurze Erfahrung werden.
Ileanas Blick war abfällig, doch sie kletterte auf den Tisch, verschränkte die Beine und hob sie an. Mit einer Hand begann sie, sich zu berühren. Mit der anderen reichte sie Niko das Fläschchen, doch die größere Flasche behielt sie an ihrer Seite.
»Wo hast du gesteckt?«, zischte Irmentis.
»Der Spiralenmeister und die Kela-Ata haben beschlossen, dass Phoebus im Sterben liegt!«
Würde es wirken? Woher sollte er das wissen? Die Steine. »Sprich mit ihnen, heule, jammere ihnen etwas vor, lenke sie einen Augenblick ab. Los!«, befahl er ihr.
»Niko ...«
»Mach schon!«
Niko trat in Phoebus’ Bade-Alkoven und zog die Steine aus seinen beiden Taschen. Nachdem er die Flasche abgestellt hatte, beugte er sich über die Steine wie über einen alten Verwandten. »Wird Phoebus mit dem Elixier überleben?«
Er warf die Steine und sah ihnen beim Drehen zu. Ja!
Niko schnappte sich das Fläschchen und lief zurück in das Gemach des Goldenen.
Doch die Steine drehten sich weiter.
»I-N-D-U-N-K-E-L-H-E-I-T-U-N-D-L-U-S-T.«
Niko trat ein und sah auf jene, die Phoebus sterben ließen.
Die Kela-Tenata und der Ägypter waren ganz und gar mit Irmentis’ hysterischem Anfall beschäftigt. Sie hatten ihm den Rücken zugewandt. Phoebus lag vollkommen reglos da, doch Niko hörte seinen schwachen Atem, daher wusste er, dass Hreesos immer noch, gerade noch, am Leben war. Er war noch nicht von ihnen gegangen, doch man hatte ihn bereits gebadet und seine Arme in die Sterbestellung gebracht.
Irmentis stürzte mit einem Schrei zu Boden und verfiel in Zuckungen. Die Kela-Tenata schwärmten um sie herum, und Niko eilte an die Liege. Er sah, dass Phoebus’ Haut kalkweiß geworden war. Haare und Körper waren blutverklebt.
Wie sollte er ihm das Elixier verabreichen?
Niko zerrte die blutdurchtränkten Verbände zur Seite, ließ die Flüssigkeit kurz kreisen und goss sie dann in die offene Bauchwunde. Phoebus krümmte sich mit einem Aufschrei zusammen, und die Kela-Tenata fuhren wie auf Kommando herum. Irmentis warf sich auf Phoebus und presste die Lippen auf den aufgerissenen Bauch.
Ihre Schreie gellten in Nikos Ohren. Entsetzt und mit mühsam verhohlener Eifersucht beobachtete er, wie sie an Phoebus’ Wunde leckte, wie ihre salzigen Tränen in die Öffnung fielen, wie Blut ihre Lippen und Wangen überzog. Immer tiefer tauchte sie in den Geschmack und Geruch von Phoebus’ Blut. Die Zauberer zogen sie fort.
Niko musste seine Angstschreie unterdrücken. Phoebus war still, so ungewöhnlich still. Das Elixier hatte ihn umgebracht? Die Steine hatten etwas anderes versprochen. Sie hatten behauptet, Phoebus würde überleben. Da gerade alle Augen auf Irmentis gerichtet waren, setzte Niko das Fläschchen an seine Lippen, doch es war leer. Niko taumelte rückwärts in den Alkoven, sammelte seine Steine ein und verschwand durch den Ausgang für die Leibeigenen. Aus weiter Ferne hörte er Brüllen und Bellen, wo Irmentis durch die Gänge hindurch abgeführt wurde.
Die Kela-Tenata glaubte, dass Irmentis Phoebus getötet hatte. Letzten Endes würde Irmentis zur Strafe das Labyrinth durchwandern.
Niko kannte die Wahrheit; Er hatte seine Gaben missbraucht und seinen Freund ermordet. Dass er fortan ohne Phoebus leben musste, war dafür die gerechte Strafe.
VIERTER TEIL
16. KAPITEL
AZTLAN
Phoebus erwachte mit einem durch Mark und Bein gehenden Ruck.
Er spürte, wie Wohlbefinden seinen Körper überschwemmte; noch nie war sein Geruchssinn, sein Gehör, sein Blick so scharf gewesen. Er spürte, dass etwas Schweres über seinem Gesicht lag, doch er hatte noch nicht die Kraft, sich zu bewegen. Er roch Angst und Tod und noch etwas, ein so verführerisches Aroma, dass ihm der Mund wässrig wurde. Doch nicht vom Speichel. Es war ätzende Säure, die seine Zunge und Kehle verbrannte und an seinen Zähnen
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