Die Seherin von Knossos
sich kam, stand die Welt Kopf. Das Pochen in ihrem Kopf bildete den Gegenrhythmus zu dem Wackeln ihres Kopfes.
Sie hing kopfüber.
Mir wird gleich todübel, dachte sie. Sie wand sich, als ihr Träger ein paar Stufen hinabeilte. Chloe versuchte, sich zur Seite zu drehen; seine Schulter drückte in ihren Magen.
»Halt dich ruhig!«
Na toll, der Möchtegern-Tyson.
»Schlecht«, gurgelte Chloe.
Er ließ sie in seine Arme fallen, mit unpersönlichem Griff wie ein Masseur. Und keine Sekunde zu früh, dachte Chloe. Ihr Kopf war am Platzen, ihr Kiefer schmerzte, und ihre eigentlich angebrachte Empörung wurde von dem dringenden Wunsch nach Aspirin überdeckt. Hatte sie jemals zuvor derartige Prügel kassiert? Sie konnte sich jedenfalls nicht entsinnen.
Eine Doppeltür schwang vor ihnen auf, und Chloe wurde in einen Raum von exquisiter Schönheit abgesetzt.
Delfine schwammen graziös über alle Wände und bildeten mit ihren höckrigen Rücken einen abgesetzten Sockel. Darunter zog sich eine Bank aus grauem Stein entlang, deren gewellte Rückenlehne dem Delfinmuster folgte. Vierzackige Sterne bedeckten die Decke, und zwischen den offenen Türen blühten Lilien. Ein durchdringender Schrei ließ Chloe zusammenzuk-ken, dann sah sie einen Pfau mit offenem, stolz erhobenem Rad hereinschreiten. Sie hörte ein Schnippen, und ihr Träger schleifte sie nach nebenan.
»Sei gegrüßt, Sibylla. Meine Dankbarkeit, dass du die Einladung, deinen rechtmäßigen Platz einzunehmen, angenommen hast.«
»Verzeih mir, wenn ich mich täusche, Ileana, aber bin ich nicht ein Sippenoberhaupt? Wäre mein rechtmäßiger Platz also nicht eher die Insel Hydroussa? Oder wenigstens mein eigenes Gemach?« Chloe gab sich keine Mühe, ihren Sarkasmus zu überspielen.
»Deine Position als Nachfolgerin der Himmelskönigin hat Vorrang«, sagte Ileana.
»Trägst du immer noch kein Kind in dir?« Seit ihrem einmonatigen Liebesfest mit Phoebus waren bestimmt schon Wochen vergangen. Natürlich war Phoebus angeblich schon kurz nach dessen Beginn umgekommen. Würde man Ileana deshalb einen weiteren Monat gewähren? Wann wäre das hier vorbei?
Ileanas Blick war warm wie ein Eiswürfel. Ihre Finger krallten sich in den nach wie vor flachen Bauch. »Leider hat Phoebus einen schwachen Samen.«
»Oder du bist unfruchtbar«, entgegnete Chloe.
Ileanas türkisblaue Augen verengten sich wie die einer Perserkatze. Offenbar war es der Himmelskönigin noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass mit ihr etwas nicht stimmen könnte. Chloe trat einen Schritt zurück.
»Da die Göttin mich noch nicht gesegnet hat, muss ich dafür sorgen, dass sich Phoebus keine anderen Möglichkeiten bieten.«
Chloe wurde allmählich ein wenig nervös.
Ileana lächelte wie der Wolf im Bett von Rotkäppchens Großmutter. »Du wirst absegeln .«
»Nein, werde ich nicht.« Wenigstens noch nicht.
»Nein, natürlich nicht«, bestätigte Ileana, was Chloe noch weiter verwirrte. Was denn nun, soll ich hier bleiben oder Weggehen) Die Frage beantwortete sich von selbst, als Chloes Arme nach hinten gerissen und straff aneinander gefesselt wurden. Sie riss den Mund auf, um loszuschreien, aber dadurch machte sie es nur einfacher, einen Wollschal hineinzustopfen.
»Dein Schiff hat bereits abgelegt, die Hörner deiner Sippe waren Henti weit zu sehen. Du wirst auf See verschollen gehen, doch da niemand mit deiner Ankunft rechnet, wird man erst davon erfahren, wenn es zu spät für eine Suche ist.«
Nein! Das kann ich Cheftu nicht antun! Aber sie brachte kein Wort heraus - sie hatte ein Schaf im Mund stecken, mit Haut und Haar.
»Viel Vergnügen im Labyrinth, Sibylla.«
Man brachte sie fort, teils geschleift, teils getragen, durch schmale Gänge und wirre Treppensysteme, bis es sehr, sehr finster wurde.
Gegen das unerwartet helle Licht zweier Fackeln anblinzelnd, las sie den Namen über der Tür, und zwar gleich zweimal. Auf Atzlan war der Name so bedrohlich und mächtig, dass er nie laut ausgesprochen wurde.
Hades.
Iii! Davon hatte Edith Hamilton nichts gesagt!
Der Leibeigene verband ihr die Augen, obwohl Chloe sich nach besten Kräften wehrte; es war absehbar, dass der Leibeigene gewinnen würde, doch sie wehrte sich instinktiv gegen die Vorstellung, nichts mehr zu sehen. Er versetzte ihr eine Ohrfeige, und in der einsetzenden Benommenheit, die auch ihre Kopfschmerzen zu neuem Leben erweckte, wurden ihre Augen mit einem Leinenschal verhüllt.
Das Letzte, was sie sah, war Feuer.
Der
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