Die Seherin von Knossos
Kingsley schreckliche Ängste ausgestanden. An ihrem Geburtstag war Chloe verschwunden. Anton Zeeman, ein holländischer Arzt, war der Letzte, der sie gesehen hatte. Nachdem man im Tempel von Luxor eine mit Blut besudelte Kammer entdeckt hatte, wurde er wegen Mordes festgenommen.
Tests hatten gezeigt, dass von den beiden festgestellten Blutgruppen keine Chloes ungewöhnlichem AB-negativ entsprach. Cammy hatte sich vor Schuldgefühlen fast zerfleischt. Ungeachtet der Tatsache, dass Chloe eine erwachsene Frau, ehemalige Soldatin und freischaffende Grafikerin war, blieb sie immer noch Cammys kleine Schwester. Cammy fühlte sich für sie verantwortlich. Nachdem die Blutanalyse abgeschlossen war, hatte man Anton wieder auf freien Fuß gesetzt.
Cammy schauderte, als sie an die Nacht zurückdachte, in der er vor ihrer Tür gestanden und sie angefleht hatte, ihm zu glauben, seine Hilfe anzunehmen. Er habe niemanden umgebracht. Sie hatte ihm nicht nur vergeben, sondern war irgendwie mit ihm im Bett gelandet, wo sie sich so stürmisch geliebt hatten, wie es Cammy nie zuvor erlebt hatte.
Lass das ruhen, ermahnte sie sich. Anton hatte erkannt, dass es ein Fehler gewesen war; er hatte sie nicht einmal mehr angerufen. Krank vor Schuldgefühlen und Sorge, war Cammy zu ihren Ausgrabungen zurückgekehrt und hatte sich in die Arbeit gestürzt. Anfang März hatte man Chloe schließlich gefunden. Nie würde Cammy die Erleichterung vergessen, die sie damals empfunden hatte.
Genauso wenig wie die gespenstische Erfahrung der hysterischen Blindheit, unter der ihre Schwester litt, oder die Tatsa-che, dass Chloes einst palmengrüne Augen nun braun waren. Gehirnerschütterung, meinten die Ärzte. Ein schweres Trauma in Verbindung mit einer Gehirnerschütterung.
Eigenartig, aber nicht vollkommen unbekannt.
Die Augenfarbe war noch die geringste Veränderung. Chloe, einst Künstlerin mit Leib und Seele, hatte das ganze Jahr über keinen Stift oder Pinsel in die Hand genommen. Mehr noch, sie weigerte sich, Ägypten zu verlassen, und hatte stattdessen ihre Konten in Dallas geplündert. Sie war mit einem jungen Ägypter namens Phaemon zusammengezogen, einem Mann, den Cammy kein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte. Den Gefühlen ihrer Eltern und dem Ruf ihres Vaters gegenüber legte Chloe eine verblüffende Gleichgültigkeit an den Tag.
Im Nahen Osten symbolisierten Töchter für einen Mann die Ehre seines Haushalts. Chloe war dabei, ihrem Vater allmählich die Luft abzudrehen, was seine Rolle als Unterhändler im verwickelten Friedensprozess des Nahen Ostens anging. Chloe wusste, dass Araber, Palästinenser und sogar die Israelis allmählich jede Achtung vor ihrem Vater verloren, doch das schien sie nicht zu kümmern. Wenn er sie besuchen kam, behandelte sie ihn wie einen Fremden. Die Beziehung zwischen beiden war nie ganz spannungsfrei gewesen, doch das hier war selbst für Chloes Verhältnisse extrem. Sie hatte sich strikt geweigert, in psychologische Behandlung zu gehen oder sich jemandem anzuvertrauen, und sei es einem Familienmitglied. Sie behauptete, sie könne sich an nichts erinnern und wolle einfach nur in Frieden gelassen werden.
Abgesehen von ihrer Größe und ihrem roten Haar war Chloe nicht wiederzuerkennen.
Camille fühlte sich trotzdem für sie verantwortlich. Dabei vermochte sie nicht einmal zu sagen, ob sie ihre Schwester überhaupt noch leiden konnte.
»Wer gewinnt?«, fragte Chloe und legte ihre langfingrige Hand auf Clydes Schulter. Cammy bemitleidete ihn. Ganz offensichtlich rang er um Haltung, und als Chloe seine Schulter zu kneten begann, weil er angeblich so verspannt war, hätte Cammy am liebsten aufgeschrien. Sie verlor absichtlich ihr Spiel und gähnte.
Clyde mit seiner Südstaaten-Erziehung erhob sich augenblicklich. Die Jeansjacke vor sich haltend, wünschte er ihnen einen guten Tag. Chloe hauchte einen Kuss auf seine Wange, dann stolperte er aus dem Zimmer, wobei er mit Fatima zusammenstieß, was seine Verwirrung nur noch steigerte. Die Tür krachte hinter ihm ins Schloss, und Cammy lauschte seinen leiser werdenden Schritten auf dem Gang nach.
»Was für ein Weichei!« Chloe ließ sich in den Sessel neben dem Bett fallen.
»Wenn er dir nicht gefällt, wieso machst du ihn dann an?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Weil es mir beliebt.«
»Er ist mein Kollege, aber was noch wichtiger ist, er ist ein netter, lieber Kerl und besser als die meisten anderen. Lass ihn in Frieden, Chloe.«
»Er ist kein kleiner
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