Die Seherin von Knossos
Opfers und bemerkte den schweren Skarabäusring aus Tigerauge und Gold. War der Mann ein königlicher Schreiber, dass er so feinen Schmuck trug? Sein Kopf war nicht geschoren, also war er eindeutig kein Priester. Zwei seiner vier Finger waren gebrochen; wenigstens die konnte User-Amun wieder zusammenfügen. Als er die Faust des Mannes aufzwang, fiel ein verschnürtes Papyruspaket aus der offenen Hand.
Mit Leinenverbänden, Salben und schweren Binsenstängeln brachte User die Hand des Mannes in eine halbwegs menschliche Form. Es wäre nicht gut, wenn er ohne brauchbare linke
Hand in die Unterwelt eintrat. Mit tragender Stimme sprach er das Gebet aus dem Buch der Toten: »Füge die Knochen in meinem Hals und Rücken fest zusammen. Lass mich von Leinen umarmen.«
Users empfindsame Hände strichen über den Körper. Die Lunge war zwar nicht punktiert, doch eine oder zwei Rippen waren gebrochen. Das Fußgelenk war ebenfalls geschwollen, weshalb User kühlendes Wasser und Verbände auflegte.
»Übergebt ihn dem Haus der Ewigkeit«, befahl er. »Er schläft zu tief, seine Verletzungen sind zu schwer. Er wird bald sterben. Zusammengefügt sind Arm, Handgelenk und Ellenbo-gen<«, sang er.
Die Priester deckten den Leib zu und machten ihn zum Abtransport bereit. »Herr«, meldete sich der Sem-Priester zu Wort, »da wäre noch eine Frau, die wir ins Haus der Ewigkeit bringen müssen.«
»Eine Frau?« User sah den Mann fragend an. Wie kam eine Frau auf die Rennbahn des Heiligen Stieres in den Tiefen eines nur von Männern bewohnten Tempels? Mit einem Kopfnicken ging der Mann nach nebenan. Auch hier stank es nach Dung.
Sie war so zerschunden, dass ihr Leib auch im Nachleben nicht mehr zu gebrauchen war. Die Hufe hatten ihren Körper zu Brei zerstampft und derart entstellt, dass er nicht mehr zu erkennen war. »Keine Ringe, keine Hinweise darauf, wer sie war?«, fragte User.
»Nein, Herr. Alle Priester im Dienst sind befragt worden.«
»Ihr Leinen ist fein gewebt.« User betastete die einst bunte Schärpe, die um ihre Taille geschlungen war. Sandalen aus Leder erster Qualität kleideten ihre Füße, und ihr Haar war echt, keine Perücke. User besah sich den Körper genauer.
Eigenartigerweise wies keines der beiden Opfer Anzeichen der Hungersnot auf. Beide waren fest gebaut, zeigten unter dem Schlamm reine Haut, und das glänzende Haar saß fest in der Kopfhaut. User holte ein Instrument aus seinem Korb und öffnete der Frau den Mund.
Der Priester zischte erschrocken. Noch nie hatte einer von ihnen so gesunde Zähne gesehen! Kräftig, weiß und vollständig an der Zahl! Angst prickelte in User-Amuns Rücken, und er wehrte mit einer Geste den Bösen Blick ab. Ihr Gesicht war blau geschlagen, ihre Augen ebenso. Aus einem Impuls heraus zog er ein Lid nach oben.
In den dreißig Überschwemmungen, die er nun im Haus des Lebens diente, hatte User noch nie solche Angst gehabt. »Isis! Beschützerin!«, flehte er.
Die Augen der Frau waren leer. Nicht eingesunken oder nach oben verdreht. Sie hatte keine Iris ... nur weiße Augäpfel.
Der Priester war zurückgewichen und befingerte ängstlich sein Amulett mit dem Udjet-Auge. User betrachtete erneut den Leib der Frau. Hier spielte sich etwas Unirdisches ab.
»Wann hat man sie gefunden?«
»Am dreiundzwanzigsten Phamenoth.«
Dem bedrohlichsten Tag im ägyptischen Kalender. Khaibits, Schatten mit Fangzähnen, und Khefts, lachende Dämonen, machten dann die Nacht unsicher. Unerklärliche Dinge geschahen. Wer klug war, verriegelte die Tür und betete um Res Licht. Wieso hatten die Priester so lange gewartet, ehe sie ihn gerufen hatten? Der Tod war in Ägypten mittlerweile so alltäglich, dass selbst die Priesterschaft ihren Pflichten nicht mehr rechtzeitig nachkommen konnte.
»Vernichtet sie«, befahl er leise.
»Herr?«
»Ihr Ka ist schon vor ihrem Tod aus ihrem Körper geflohen. Ihre Augen, die Fenster ihrer Seele, sind leer. Sie ist nur noch eine leere Hülle. Ihr Körper ist zermalmt und kann ihr im Nachleben nicht mehr von Nutzen sein. Hier ist etwas vorgefallen, das sich unserem Verständnis entzieht.«
Er sah den verängstigten Priester an. »Wir müssen uns selbst schützen und darum ihren Leichnam vernichten!« »Hier ist das unmöglich, Herr. Wir sind in einem Tempel! Vielleicht könnte das Haus der Ewigkeit ...«
»Nein, du Tor! Dort wird man versuchen, ihren Körper zu erhalten. Das darf keinesfalls geschehen. Komm mit. Sofort. Wir werden sie dem Nil
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