Die Seherin von Knossos
es bei einem leichten Zittern, das Chloe ignorierte. Sie musste sich am äußersten Rand des Labyrinths befinden. Alle anderen Irrgärten hatte sie immer von innen nach außen durchwandert. Von außen nach innen verlor sie stets die Orientierung.
Sie konnte durch die weiß gekalkten Röhren nach oben sehen, die sich unvermittelt öffneten und die Unglücklichen hier unten landen ließen. Sie sah sich um und fragte sich, womit sie wohl Feuer machen könnte, sollte sie etwas zum Anzünden finden. Cammy hatte ihr immer erklärt, dass »Twinkie«-Törtchen großartige Fackeln abgaben. Chloe hatte das einem Typen in ihrer Einheit erzählt, doch nachdem sie erst aufgehört hatten zu lachen und ein paar Twinkies angezündet hatten, machten sie keine Späße mehr darüber.
Chloes Magen knurrte und ihr war klar, dass sie, hätte sie ein paar Twinkies bei sich gehabt, schwer überlegt hätte, ob sie die Dinger nun anzünden oder essen sollte.
Doch wie sollte sie sich Licht beschaffen, nachdem es in Azt-lan wohl kaum Twinkies zu kaufen gab? Wie sollte sie erkennen, welchen Weg sie genommen hatte?
Plötzlich fiel ihr schlagartig ein, wie sie in Osttexas auf die Jagd gegangen war. Mimis zweiter Mann (den ersten hatte sie in sehr jungen Jahren verloren) war ein schneidiger Ölarbeiter namens Jack gewesen. Er hatte Mimi vergöttert und ihre Kinder verwöhnt, als wären es seine eigenen. Abgesehen von Mi-mi war seine einzige Leidenschaft die Jagd. Als Chloe älter geworden war, hatte sie nicht mehr begreifen können, wie ein so sanfter Mann so blutdurstig sein konnte. Jack hatte überall auf der Welt gejagt und geangelt: auf Safaris in Afrika, auf Expeditionen durch Kanada und Australien, sogar in China. Eines Tages hatte er seine kleine Enkelin mit auf seine Ranch genommen, um sie in die Feinheiten des Kampfes Mann gegen Tier einzuführen.
Wahrscheinlich hätte er sich wunderbar mit Irmentis verstanden.
Chloe hatte es gefallen, dass sie so viele Tiere zu sehen bekam. Aus der Nähe, nicht wie im Zoo. Doch Bleistift und Papier waren für das empfindsame Ohr des Hirsches zu laut gewesen, darum hatte sie still und reglos dasitzen müssen. Mit ihren sieben Jahren hatte sie das als Quälerei empfunden, bis sie begriff, dass sie später aus dem Gedächtnis zeichnen konnte, wenn sie nur gut genug aufpasste.
Und so zeigte ihr Jack, nachdem er ihr beigebracht hatte, wie man die Tiere an ihren Wasserlöchern aufspürt, wie man Fährten liest. Anhand der Losung.
Es war eine widerwärtige Vorstellung, fand Chloe.
Doch damit würde sie gleich zwei Probleme lösen: Erstens würde sie wissen, wo sie schon gewesen war, und zweitens hätte sie später Brennmaterial - falls sie etwas fand, womit sie es anzünden konnte.
Mimi rotiert bestimmt in ihrem Grab, dachte Chloe, und errötete trotz allem.
Auch Irmentis würde sie auf diese Weise aufspüren können, doch andererseits hatte sie Chloe auch zuvor gefunden, deshalb machte es wohl kaum einen Unterschied, wenn sie eine noch deutlichere Spur hinterließ. Hat sie an meinem Finger gekaut, weil ... Chloe schauderte und marschierte los an die erste Stelle, die sie markieren musste.
Zum ersten Mal in ihren Leben wünschte sich Chloe, sie wäre ein Mann. Dann hätte sie besser zielen können. Wenn man etwas in der Hand hielt, war das kein Problem. Kein Wunder, dass kein weibliches Tier sein Territorium markierte!
So durchmaß sie den Tunnel von einem Ende zum anderen, wobei sie jede Ecke markierte. Ich komme mir vor wie ein rolliger Kater! Dafür erwies sich der Nutzen unverzüglich, denn zweimal landete sie an einer bereits markierten Stelle. Verblüffend, wie leicht sie den beißenden Gestank wiedererkannte, vor allem in dieser Dunkelheit.
Oh, wie tief bin ich gesunken!
Die natürliche Auslese war ein freudloser, ekliger Vorgang.
Die nächste Frage war, wie sollte sie in die anderen Schichten des Labyrinths hinaufgelangen?
Das Erdbeben schleuderte sie durch den Raum, ließ dabei Kalk und Stein auf ihren Leib herabregnen und brachte ihre Fragen zum Verstummen.
Die Landbrücke von Aztlan hatte seit jeher Fragen aufgeworfen: Wie war sie entstanden? Wie konnte sie sich so lange halten? Die Antworten lagen tief in der Erdgeschichte begraben. Die zwei Inseln waren einst eine Einzige gewesen, und erst als die Lagune sich gebildet hatte, war das verbindende Land so weit erodiert, dass sich eine Art freischwebende Brücke gebildet hatte.
Heute rutschte, tief unter dem Erdboden, die ägäische
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