Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Frank
Vom Netzwerk:
Mikroplatte in schrägem Winkel unter die afrikanische Platte. Für einen Moment drehte sich die gesamte ägäische Platte in ihrer Schräglage, wobei sie die Erde zerdehnte und nervöse Haarrisse durch die Landmasse jagte, auf der sich die beiden Inseln erhoben.
    Auf Aztlan wie auch auf Kallistae verschoben sich die bis dahin festen Pfeiler der Landbrücke und ein breiter Spalt begann sich diagonal von Nordwesten nach Südosten zu ziehen. Die zwei von Menschen erbauten Fußgängerbrücken stürzten als Erstes ein, wobei die wenigen verwegenen Seelen, die sie zu überqueren versuchten, in den Abgrund zwischen den Inseln geschleudert wurden.
    Ein paar Bürger eilten noch über die Landbrücke in Richtung der Insel Aztlan, in der Hoffnung, die Katastrophe in der Pyramide überstehen zu können, wo Apis sie, davon waren sie überzeugt, vor seinem Zorn beschützen würde.
    Eine Mutter, die winzige Hand ihres Sohnes in der ihren, hatte zu rennen begonnen, sobald sie das Beben unter der Landbrücke spürte. Nun forderte die jahrhundertelange Erosion ihren Tribut, die Brücke begann zu bröckeln. Die Menschen prallten aufeinander - jene, die den Spalt breiter werden sahen und davor flohen, stießen mit den anderen zusammen, die nur die Pyramide sahen und sich dort in Sicherheit wähnten.
    Ihr Schreien, Jammern und Heulen wurde von Apis’ machtvollem Grollen übertönt, dann begann die Erde zu zittern, als versuche sie, die Menschen auf ihrem Rücken abzuschütteln. Die Mutter hatte immer noch die Hand ihres Sohnes umklammert, als sich der Boden einen Schritt vor ihr absenkte. Mit einer Eleganz und Kühnheit, die sie sich nie zugetraut hätte, sprang sie auf die andere Seite.
    Die Brücke zerfiel, riesige Fels- und Erdbrocken stürzten auf die tosenden Wasser darunter, während sich die Menschen ameisengleich abmühten, obenauf zu bleiben, selbst nachdem sie in die schillernden Meereswogen eingetaucht waren.
    Jene auf dem Berg verfolgten das Schauspiel voll Entsetzen, sie wähnten sich in Sicherheit, auch wenn die Brücke, die beide Inseln verbunden hatte, in die plötzlich unergründlichen Tiefen der Theriosee versank. Ein Gefühl gnadenloser Verlorenheit machte sich breit, je länger sie zusahen, wie die Hand von Apis, dem Erdrüttler, ihre Landsleute ins Verderben stieß.
    Die Mutter hatte Glück gehabt; mit einer Hand konnte sie sich an ein paar Wurzeln festklammern, obwohl ihre Beine noch über dem Abgrund baumelten. Ihr Kind quietschte vor Angst, denn es hing zwischen Himmel und Erde, gehalten nur durch die glitschigen Hände seiner Mutter. Mit einer Kraft und Entschlossenheit, wie sie nur eine Mutter aufbringen kann, zog sie die rechte Hand nach oben und schrie ihr Kind an, sich mit der anderen Hand fest zu halten und über sie hinwegzuklettern. Das Kind war ein Dreijähriger mit Babyspeck, meist ungeschickt, pausbäckig und mit wehmütigen braunen Augen. Sobald seine Füße festen Boden fanden, ermutigte sie ihn, bergauf zu wandern, immer weiter, sie würde später nachkommen. »Bleib bloß nicht stehen!«
    Der Schmutz trocknete ihre Tränen, erstickte ihre Schreie, dann spürte sie, wie sie weiter abrutschte und seine kleine Hand ihre losließ. Er rief nach ihr, doch sie schluckte ihren Schrei hinunter, als die Wurzel sich ein Stück weiter aus dem Boden löste. Nun versuchte sie sich mit beiden Händen hoch zu ziehen, doch sie war zu schwach, zu schwer.
    »Geh schon, Akilez«, befahl sie ihrem Sohn. »Geh schon! Manoula hat dich lieb.« Schmerz schoss durch ihre Arme, deshalb versuchte sie, sich mit den Füßen abzustützen, um sich hoch zu ziehen, doch ihr Korsett saß zu straff und ihre Röcke engten sie zu sehr ein.
    Weinend beobachtete ihr Sohn, wie die Wurzel sich weiter aus dem Erdreich löste. Die Wogen kamen näher, wie ein gnadenloses Maul, das sie zermahlen und verschlingen würde. Nicht mein Kind!, dachte sie. Es war ihr Blutskind und noch nicht der Sippe der Woge anvertraut worden, die ihn eines Tages einfordern würde. Das Gesicht aus der Erde hebend, begann sie zu singen, zu ihm hinaufzurufen und ihn zu ermutigen, ebenfalls singend in Richtung des großen goldenen Gebäudes zu wandern.
    Die Schmerzen ließen nach, während ihre Stimme immer lauter schallte. »Lauf schon!«, rief sie. Jetzt setzte das Beben wieder ein, das spürte sie in der Pflanze, die sie umklammert hielt, genau in jenem Teil Aztlans, der ihr Tholos werden würde. »Lauf los, sing den Priestern!«, gellte sie. »Lauf!«
    Seine

Weitere Kostenlose Bücher