Die Seherin von Knossos
Wolke gerechnet, über das Wasser hinwegzuspringen. Chloes Blick wanderte über die unfassbare Zerstörung um sie herum.
Momentan war der Vulkan zur Ruhe gekommen, aber für wie lange? Für Stunden, für Äonen? Sie mussten fort. Sie konnten möglicherweise nach Kaphtor entkommen, auch wenn keine Schwalben von dort zurückgekehrt waren, um ihnen davon zu künden, wie es den Kaphtori ergangen oder was aus den übrigen Inseln geworden war.
Chloe tränkte Stoffstreifen mit Wein und Mohn, um das Gemisch in die Münder der Opfer zu träufeln. Jenen, deren Lippen weggebrannt waren, legte sie den Stoff auf die Zähne, sodass sie die Flüssigkeit tropfenweise heraussaugen konnten.
Sie bewegte sich nur noch mechanisch, den schreienden Schmerzen in ihrem Körper zum Trotz, doch die Beschäftigung hinderte sie daran, über Cheftu nachzudenken und darüber, was passiert war. Sie versuchte, einen Handel mit Gott abzuschließen. Im Feilschen war sie immer miserabel gewesen, aber nie war es um etwas derartig Kostbares gegangen. Lass ihn am Leben, bitte. Nur um zu atmen und lachen und lächeln?
Wenn das hier ein Film wäre, dachte Chloe, würde ich Gott jetzt schwören, dass ich Cheftu an Dion abtrete, solange Gott ihn nur am Leben lässt. Um sein Leben zu retten, würde ich seine Liebe und mein Glück opfern.
Doch es war kein Film, und dafür kannte Gott sie zu gut, erkannte Chloe.
Keine noch so große Lüge würde den Allmächtigen überzeugen. Cheftu gehörte ihr. Bitte lass ihn überleben, dann werde ich ihm eine treue, verständnisvolle, wunderbare Gemahlin sein.
Und sollte sich Dion ihr in den Weg stellen, würde sie ihn in den Boden stampfen.
»Findet ihn«, fauchte Dion.
Nestor seufzte. »Wir haben die ganze Höhle durchkämmt, in der er Sibylla zufolge sein sollte. Was können wir noch tun? Es ist nur ein einziger Mann, Dion. Und Tausende brauchen unsere Hilfe.«
Dion blickte auf den Rücken des Mannes, der so reglos vor ihm lag. Imhotep war von ihnen gegangen - und mit ihm alle geistigen Schätze Aztlans. Der Tempel der Schlangengöttin und mit ihm alle Kela-Tenata lagen unter Trümmern begraben seit dem letzten Erdbeben, als Säulenbruchstücke und Freskenteile ins Meer gekracht waren und die Insel mit jedem Dekan weiter abzukippen schien. Dion kannte sich notdürftig im Heilen aus, doch Cheftu brauchte mehr, wesentlich mehr. »Es muss doch irgendwen, irgendwas geben.«
Nestor legte eine Hand auf Dions Schulter. »Es ist uns nicht bestimmt, Bruder. Der Mann tritt schon seine Reise an. Lass es gut sein, Dion. Bade ihn, wenn du möchtest, doch die anderen brauchen dich dringender.«
Dion knirschte mit den Zähnen. Vielleicht brauchten ihn andere dringender, doch er brauchte Cheftu. Er würde ihn auf keinen Fall sterben lassen, selbst wenn er dafür an Cheftus Stelle dem Tod ins Auge blicken müsste. Er schüttelte Nestors Hand ab.
»Bring mir Niko oder stirb im Feuer!«
Die Nacht hatte sich herabgesenkt, auch wenn Dion nicht hätte sagen können, woran sie Tag und Nacht unterscheiden sollten. In dem Versuch, die zornigroten Schwielen abzukühlen, ließ er Wasser über Cheftus Rücken laufen. Eine dünne Schicht feiner Glassplitter war auf Cheftu herabgeregnet, sodass er jetzt aussah wie von tausend Nadeln gestochen. Nachdem Dion zwei Leibeigene angewiesen hatte, ihm mit Lampen zu leuchten, deren Licht sich in den meist bernsteingelben Partikeln brach, hatte er sie Stück für Stück herausgezupft.
Als die Tür aufging, drehte er sich um.
Nestor, schweißfleckig und grau vor Asche, trat ein. »Wir haben Niko gefunden, Dion. Aber ich bezweifle, dass er dir eine Hilfe sein wird.«
Dion hatte kaum Zeit, sich wegzudrehen, ehe er sich übergeben musste. Nestor reichte ihm ein Tuch für den Mund.
»Es kommt immer ganz plötzlich«, sagte er.
In Apis’ Namen, was war geschehen? Dion sah noch einmal hin. Niko, den er nur an seinen veilchenblauen Augen erkannte, schien eine Art Umhang zu tragen. Nein, keinen Umhang; seine Haut war so verbrannt, dass er aus einer einzigen riesigen, nässenden Wunde zu bestehen schien. Seine Hände waren zu Klauen gebogen. Verglichen mit ihm strotzte Cheftu geradezu vor Gesundheit.
Dion fing Nikos Blick auf.
»Was ist geschehen?«, fragte Dion.
Niko versuchte zu blinzeln, doch seine Lider waren verbrannt.
Nestor flüsterte Dion ins Ohr: »Seine Kehle ist verbrannt. Er kann kaum sprechen.«
Dion verkniff sich ein frustriertes Heulen. Wenn Niko ihm nicht helfen konnte, wozu hatte
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