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Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Frank
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Hätte er ihr Ka , ihren Geist vernichten wollen, hätte er ihren Namen auf eine Papyrusrolle geschrieben und sie an die Kordel gebunden. Da sie nur ihren Körper vernichten wollten, war es nicht nötig, ihren Namen auszumerzen. Ein Glück, denn schließlich kannte niemand ihren Namen oder ihren Herkunftsort.
    Stattdessen beteten beide um Schutz für ihr Ka, das bereits über das Antlitz der Erde irrte. Sobald der Leichnam eingewik-kelt und verschnürt war, nahm der Priester eine Wachspuppe der Frau in die Hand. Dies war die heiligste Zeremonie, das übelste unter allen ägyptischen Ritualen. Doch es war ein unverzichtbarer Schutz. Ägypten war bereits geschwächt, vom Hunger ebenso wie von den im Sand kriechenden Asiaten, die von jenseits der Wüste vordrangen. Das Rote und Schwarze Land konnte keinen Khaibit mehr gebrauchen, der über die Marschen wanderte.
    Mit einer scharfen Bronzeklinge schnitt der Priester der Wachspuppe die Füße ab. Bildete User sich das nur ein, oder zuckte der Leichnam tatsächlich, als hätte er das Messer gespürt? In einer Umkehrung der Totengebete, der Gebete der Verstorbenen auf ihrer Reise durch die Nachwelt, sang der Priester: »Wenn Res Licht auf diese Felder scheint, sollst du dich nicht erheben, um dort zu wandeln.« Er schnitt der Puppe die Hände ab. »Deinen Händen sei alle Schöpferkraft genommen. Du kannst dich nicht neu erschaffen.« Die Stimme des Priesters begann zu zittern, als er das Heft des Messers anhob und das Gesicht der Puppe zertrümmerte. »Du seist geblendet, du mögest den Fluss, das Land nicht finden. Du kannst keine Rache nehmen und keine Zerstörung bringen und nicht rauben, was dir nicht gehört.« Er schnitt den Kopf ab. »Unter Osiris’ Schutz schneide ich meiner Schwester den Kopf ab. Ich bitte um den Beistand Osiris ’, damit dieses Ka in die Nachwelt Eingang findet. Du kannst keine Rache nehmen.«
    Er legte das Messer nieder, sammelte die abgetrennten Glieder der Puppe auf und wickelte sie in den Saum des Leinens. Nachdem sie durch eine Seitentür ins Freie getreten waren, schleppten User und der Priester den Leichnam in die sternen-übersäte Nacht hinein, Gebete rezitierend, die ihnen so selbstverständlich von den Lippen kamen wie ihr eigener Name.
    »Heil, langbeiniges Untier, das aus dem Kornfeld heranmarschiert, du Geschöpf aus dem Haus des Lichtes. Ich habe nichts in dieser Welt gesehen als Schönheit. Mögen wir ewig leben!
    Heil, Priester des Räucherwerks, des Rauches und der Flamme, frisch aus der tagtäglichen Schlacht der Seele. Ich habe nichts aus diesem Leben gewonnen als Kraft! Mögen wir ewig leben!
    Heil, Wind in meinem Gesicht, aus den Mündern der Götter wehend. Ich habe die jungen Gänse ins Nest zurückgesetzt. Die Falken schweben frei über den Felsen. Mögen wir ewig leben!
    Heil, Verspeiser der Schatten, Schrecken aus den Tiefen der Berge. Ich habe keinem Menschen das Lebenslicht gelöscht. Ich habe weder sein Leben, noch seine Träume genommen. Mögen wir ewig leben!«
    Sie standen an der Stelle, wo vor der Überschwemmung das Ufer des Nils gewesen war, den Leichnam zwischen ihnen, bis zum Bauch im Wasser watend. Unbeholfen stopften sie Steine in die Leinenhülle. Jetzt, wo sie das letzte Gebet sprachen, weinte der Priester hemmungslos.
    »Möge das Licht durch uns und auf uns und in uns scheinen.
    Mögen wir jede Nacht sterben und jeden Morgen wieder geboren werden, auf dass die Wunder des Lebens uns nicht entfliehen. Mögen wir lieben und lachen und frei in die Herzen der anderen treten. Mögen wir ewig leben!«
    Das Klatschen kam ihnen unnatürlich laut vor, dann war sie verschwunden. Wo immer ihr Ka auch hingeflogen war, nun war es dort gefangen. Die beiden Männer fassten sich an den Armen und blickten hinaus auf den dunklen Fluss.
    »Mögen wir ewig leben«, flüsterte User.
    Ipiankhu, wörtlich: »Dessen Name ist >Ich lebe<«, fuhr aus dem Schlaf hoch. Im Aufsitzen tastete sein Blick den Raum ab. Er war nicht in der düsteren Enge seiner Gefängniszelle, wo der Nacht die Verzweiflung anhaftete wie ein Gestank, wo die furchterfüllten, an steinerne Götzen gerichteten Schreie der Menschen in seinen Ohren gellten.
    Er atmete tief durch.
    Stattdessen überschwemmte das Glühen der Morgendämmerung sein großes, vornehmes Gemach. Die weißen Leinen auf seiner Bettstatt waren rosa und orange getönt. Der zugedeckte Leib seiner Frau bewegte sich langsam unter ihren Atemzügen. Er war zu Hause. Er war in Sicherheit.

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