Die Seherin von Knossos
Frei. Der mächtigste Mann Ägyptens nach Pharao, ewig möge er leben!
Was hatte ihn also aus dem Schlaf gerissen? Steif stand er auf, ging an den Alkoven und wusch Gesicht und Hände. Kurz starrte er in den Bronzespiegel. Bei Sonnenaufgang zeigte sich sein fremdländisches Aussehen am deutlichsten. Das Licht schien in den roten Stoppeln auf seinem Kinn und seinem Kopf
Feuer zu fangen. Seine Haut war von Sommersprossen übersät, die von der Sonne zu einer kupferfarbenen Masse zusammengeschmiedet worden waren. Seine Augen, braungrün wie der Nil, zeichneten sich deutlich gegen die bronzefarbenen Brauen und Wimpern ab. Er wandte den Blick ab. Ein Dekan mit der Bürste und dem Farbe auftragenden Diener, und Ipiankhu wäre ein Ägypter wie jeder andere.
Er löste sich vom Spiegel und trat an die Tür, von wo aus er auf den Hof seines Hauses blicken konnte. Alles, was ihn einst schön gemacht hatte, war von der Hungersnot ausgemerzt. In den stehenden Pfützen faulten die Pflanzen. Doch die Hungersnot würde nur noch vier weitere Überschwemmungen andauern. Das wusste er genau; das war ihm versichert worden.
Ipiankhu hob sein Gesicht der Sonne entgegen. Geh zu Pharao! hörte er einen machtvollen Befehl durch seinen suchenden Geist flüstern. Er wurde von Senwosret gebraucht. Das Wissen erfasste ihn, darum klatschte er in die Hände, um seinen Diener zu wecken, der ihn für die Audienz vorbereiten würde. Als keinen Dekan später die Sklaven kamen, um ihn abzuholen, waren sie sprachlos. Ipiankhu war eindeutig ein Ehrfurcht gebietender Magier!
Pharao Senwosret saß auf seiner Bettstatt. Er hatte den kahlen Kopf bedeckt, und das ungeschminkte Gesicht darunter war von Linien gekerbt, die von kummervollen Überschwemmungen gegraben worden waren. Der Film, der seine Augen überzog und ihm die Sicht raubte, schien noch dicker geworden zu sein. Wie der Nil waren seine Augen trübe und mit Gift gefüllt. Ipiankhu warf sich vor ihm zu Boden.
»Erhebe dich, mein Weiser«, befahl Pharao. »Ich habe geträumt!«
Wie jedes Mal, wenn er einen Traum deuten sollte, blitzten in Ipiankhus Kopf Bilder auf: Seine Kindheit und der arrogante Traum, in dem Sonne, Mond und neun Sterne sich vor ihm verneigten. Der schöne Umhang, der ihn als Erben der väterli-chen Herden auswies, derselbe Mantel, der ihm von seinen Halbbrüdern vom Leib gezerrt worden war. Die klamme, von Ungeziefer wimmelnde Kälte des Brunnens, wo er zahllose Tage und Nächte in Todesangst zugebracht hatte. Das schöne Gesicht seiner Brotgeberin, das von Lust zu Hass wechselte, als würde ein Bildhauer vor Ipiankhus Augen ihr ein neues Antlitz meißeln. Die herablassende Art des Bäckers, der später sterben musste. Er spürte Kälte im Blut und bat in seinem Herzen um Beistand. »Meine Majestät, wenn es der Wille des Unbekannten ist, so will ich dir deuten.«
»Ich war in einer Wüste. Es war kalt, nicht heiß, obwohl Re vom Himmel brannte.« Senwosret fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Vor mir verloren Dünen und Sand jede Farbe. Grauer Nebel, dicht wie Qualm von Räucherwerk, umgab mich. Dann wurde alles dunkel. Aus der Dunkelheit hörte ich ein wütendes Knurren wie von einer großen, verletzten Katze. Lodernde Flammen schlossen mich ein, und ich sah die Welt in strahlendem Licht und einen Berglöwen mit Augen wie geschmolzenes Gold vor mir stehen. Er hielt ein Messer in seinem Maul.« Senwosret wandte die Augen ab. »Dann bin ich erwacht.« Der Pharao kaute kurz auf seiner Lippe. »Könnte das ein Zeichen sein, in Bastets Tempel zu gehen?«
Ipiankhu seufzte. Der Unbekannte würde wohl kaum wünschen, dass Pharao ein Götzenbild anbetete. Wann würde der Mann unter Ägyptens Doppelkrone endlich begreifen, dass seine Götter bedeutungslos waren? Natürlich konnte Senwosret nicht Ipiankhus Gott huldigen, schließlich gehörte er nicht Ipi-ankhus Stamm an. Seinem Stamm ... Ipiankhu schob seine Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf Pharao.
»Ich muss um die Weisheit des Unbekannten beten«, sagte er. »Nur durch seine -«
»Ja, ja, ich weiß«, unterbrach ihn Pharao. »Nur er kann sehen und zu dir sprechen. Du bist nur sein Gefäß.« Er seufzte. »Zu schade, dass dein Gott dir nicht die Ehre gewährt, deine Gaben anzunehmen und sie als deine eigenen zu betrachten.«
»Es sind nicht meine«, setzte Ipiankhu zu ihrer gewohnten Auseinandersetzung an.
Pharao winkte ab. »Ich habe heute kein Herz für deine Worte. Geh und tu, was du musst, um zu
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