Die Seherin von Knossos
deuten. Ich will dein Gesicht nicht am Hofe sehen, ehe du weißt, was dieser Traum mir sagen soll.«
»Aber der Gesandte aus Aztlan, Meine Majestät -«
»Wozu hast du Gehilfen? Du hast doch gewiss wenigstens einen Ägypter darin unterwiesen, Aztlans Drohungen zu parieren und mit zusammengebissenen Zähnen zu lächeln?«
Ipiankhu verbeugte sich und entfernte sich rückwärts aus dem Blickfeld Pharaos - darauf erübrigte sich jede Antwort. Sobald er wieder hinter der Doppeltür stand, fluchte er. Die Verantwortung lastete schwer auf seinen Schultern; Aztlan setzte sie gefährlich unter Druck, und er und Imhotep mussten Ägypten verteidigen ... wie auch immer.
Ipiankhus Zorn wurde von einer größeren Macht weggespült. Ein tieferer, drängenderer Ruf als Begierde oder eheliche Hingabe, tägliche Pflichten oder eine flüchtige Machtstellung. Vergiss deine erste Liebe nicht. Das unmissverständliche Flüstern erfüllte seinen Geist. Mit ein paar knappen Befehlen delegierte er seine täglichen Pflichten, dann machte sich Ipiankhu bereit, vor seinen Unbekannten Gott zu treten.
AZTLAN
Phoebus wich in einer Finte nach rechts aus und erwischte seinen Gegner mit einem Zacken seines Dreizacks in der Brust. Der Seesoldat fiel zu Boden, und Phoebus zog die Waffe zurück. »Das reicht«, erklärte er und übergab den großen Metallstab mit den gepolsterten Zinken an einen Leibeigenen.
»Ein guter Kampf.«
»Meine Dankbarkeit, Goldener«, erwiderte der Seesoldat mit einer Verbeugung.
Phoebus, Aufsteigender Goldener Stier des Aztlantischen Imperiums, blickte zum Balkon auf, wo Niko, sein bester Freund, über einer Schriftrolle hockte. Obwohl die Übung gut gelaufen und Phoebus überzeugt war, auf die Zeremonie vorbereitet zu sein, enttäuschte es ihn, dass Irmentis nicht hereingekommen war. War sie nicht hier gewesen, verborgen im Schatten der sicheren, von Fackeln erhellten Kammer? Er hatte gemeint, ihren Blick zu spüren, fast so deutlich wie die Berührung einer Hand.
Er kämmte sich das lange blonde Haar aus dem Gesicht, ließ sich von einem Leibeigenen ein feuchtes Tuch reichen und wischte den Schweiß von dem Übungskampf ab. Die Zeit der Schlange war warm gewesen in diesem Jahr, ein merkwürdiges Omen, das niemand zu deuten wusste - oder wagte. Mühsam schluckend dachte Phoebus an die bevorstehenden Rituale. Er war neunzehn; sein ganzes Leben hatte er sich hierauf vorbereitet, auf das Megaloshana’a, das Große Jahr.
»Pateras, Pateeeras!«
Phoebus hörte seinen Erstgeborenen rufen und drehte sich um. »Eumelos!« Der Junge warf sich in Phoebus’ Arme und umarmte ihn mit der klebrigen Hitze eines Kindes. Ein paar Atemzüge lang drohte der Stolz darüber, dieses zappelnde Bündel an Klugheit und Ungestüm sein Kind zu nennen, Phoebus vor Dankbarkeit in die Knie zu zwingen.
Eumelos gehörte Phoebus, er war das Einzige, was seine Stiefmutter Ileana nicht an sich reißen konnte. Er war Phoebus’ Augenweide. Auch wenn er nie den Thron besteigen würde, da er nicht von der Muttergöttin geboren worden war, würde er eines Tages im Rat sitzen. Durch unversehens aufsteigende Tränen lächelnd, sah Phoebus seinen Sohn an. Sein Haar war so blond wie das seines Vaters, seine Augen waren genauso himmelblau. Im Alter von fünf Sommern war Eumelos’ Ge-sicht immer noch kindlich weich, doch bald würde er die scharfen Züge und die kühne Nase seiner Sippe tragen. Er wäre Phoebus’ lebendes Abbild.
Spiralenmeister meinte sogar, der Junge könnte Potenzial als Orakel haben, einen Zug, den er von seiner Tante Sibylla geerbt hatte, vermutete Phoebus.
Der Junge riss sich los. »Der letzte Streich ist wirklich blitzschnell gekommen, Pateeeras«, verkündete er und imitierte dabei Phoebus’ Finte und Stoß. »Ich schaue schon seit Monden zu, aber so was habe ich noch nie gesehen! Damit müsstest du ihn kriegen.« Eumelos tanzte herum und kämpfte mit seinem dürren, biegsamen Leib in Finten und Hieben unsichtbare Gegner nieder. »Bist du bereit für den Kampf mit dem Stier?«
»Ich tanze mit dem Apis-Stier, Eumelos. Kämpfen tut man nur Mann gegen Mann.«
»Ich wünschte, ich könnte auch mal gegen den Stier kämpfen«, meinte Eumelos sehnsüchtig.
Mit einem Fingerschnippen schickte Phoebus die Leibeigenen fort. »Du bist zu Großem bestimmt. Mit dem Stier zu tanzen .« Er verstummte. Alle Worte würden nicht daran rütteln; der Junge würde nie herrschen. Er konnte nichts daran ändern. Phoebus riss seinen Blick von
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