Die Seherin von Knossos
wusste Ipiankhu nicht. Die Sonne schien, ohne dass er verstand warum, doch sie schien. Er fuhr sich mit der Hand über das Kinn, eine Angewohnheit, die er von seinem Stamm übernommen hatte, obwohl er nie einen Bart getragen hatte und das Gefühl daher nicht kennen konnte. In der Stille des Tragsessels hallten ihm immer noch die Worte durch den Kopf, die Cheftu ihm zugeflüstert hatte.
»Shalom, Yosef ben Y’srael. Eure Nation wird groß sein.«
DRITTER TEIL
6. KAPITEL
KAPHTOR
Chloe konnte nicht einmal mehr bereuen, dass sie sich einverstanden erklärt hatte, bei allem, was mit einem Wettlauf zu tun hatte, das »Steuer« zu übernehmen. Ihre Beine schmerzten, ihre Arme schmerzten, ihre Brüste schmerzten wie wahnsinnig, und ihre Füße waren mit blauen Flecken und Blasen überzogen.
Währenddessen ruhte sich Sibylla am Rande von Chloes Bewusstsein aus, fast wie die bezaubernde Jeannie in ihrer rosa Samtflasche. Während ich mir den Allerwertesten für ein Rennen aufreiße, das ich gar nicht laufen will, dachte Chloe seufzend.
Heute fand das erste in einer ganzen Reihe von Wettrennen statt, bei denen sie sich qualifizieren musste. Wenn sie hier verlor, konnte Sibylla aufhören zu laufen. Was bedeuten würde, dass ich aufhören könnte zu laufen. Sie zuckte zusammen, als die bis dahin stumme Sibylla sie auf der Stelle mit Vorwürfen überhäufte, sie habe keine Ehre, keinen Anstand . Nörgel, nörgel, nörgel, dachte Chloe.
Sie begann mit ihren Dehnübungen und plauderte dabei mit den anderen Frauen. Fünfundzwanzig Wettkämpferinnen nahmen an dieser Ausscheidung teil. Chloe musterte sie kritisch und erkannte, dass wie bei Aschenputtels Schuh die meisten keine Chance hatten. Drei waren mager und muskulös; diese drei musste sie im Auge behalten.
Die Läuferinnen gingen an den Start, und Chloe band ihre Brüste heimlich in einen Halter, den sie aus der Schärpe um ihren Rock gefertigt hatte. Es war nicht gerade ein Sport-BH, aber er erfüllte seinen Zweck und war unter den wollenen Hemden, die alle Läuferinnen trugen, nicht zu sehen.
»Jassu!«, rief der Schiedsrichter. Und weg waren sie.
Die Aztlantu hatten den Unterschied zwischen Langstrecke und Sprint noch nicht recht begriffen, deswegen handelte es sich praktisch um einen Langstreckensprint. Über etwa sechs Kilometer. Ich hasse Laufen, skandierte Chloes Gehirn im Rhythmus ihrer Schritte.
Sie konzentrierte sich auf die Atmung und darauf, nicht umzuknicken, während sie sich aus dem Pulk löste. Wie erwartet hatten zwei der mageren, durchtrainierten Frauen die Führung übernommen. Chloe und die dritte magere Frau drängten durch die Masse der pustenden, prustenden Frauen nach vorne. Chloe wich kurz zur Seite aus, um nicht einen übereifrigen Ellbogen in die Magengrube zu bekommen.
Der Pfad machte eine Biegung, wurde schmaler, und mit einem Extraschub Energie ließ Chloe den Pulk und die dritte Läuferin hinter sich.
Wenigstens glaubte sie, dass sie hinter ihr waren. Es war überraschend ruhig, nur der Wind und ihr Atem waren zu hören. Getüpfeltes Sonnenlicht fiel auf sie, während Chloe ihre Beine, in Sibyllas Haut, pumpen und den laubbedeckten Pfad entlangstampfen sah.
Dann war sie auf einer Lichtung, den beiden anderen Läuferinnen auf den Fersen. Eine fiel humpelnd zurück, und Chloe begriff, dass sie sich das Gelenk verknackst hatte. Sie heftete ihren Blick wieder auf den Boden, auf mögliche kleine Vertiefungen und Steine achtend. Die Frau gab schließlich auf und ließ sich zu Boden fallen. Chloe wurde langsamer.
»Geht es?«
»Mein Gelenk, Herrin«, keuchte das Mädchen. »Lauf weiter,
ich komme schon zurecht.«
Dann war Chloe an ihr vorbei, die Worte wie einen Segenswunsch hinter sich herziehend. Nur noch eine Läuferin, dachte sie. Sibylla wurde langsam aufgeregt, bis Chloe sie anschnauzte. Schweiß verklebte ihre Haare, rann zwischen ihren hochgebundenen Brüsten hinab und durchtränkte das Wollhemd. Sie rannte weiter.
Weiter vorne sah sie die letzte Läuferin. Wie weit war es noch zum Ziel?, fragte sich Chloe. Foto-Zieleinläufe waren ja lustig und sahen toll aus, aber sie wollte gewinnen, ohne jeden Zweifel, und ihre Gegnerin Staub schlucken lassen.
Du bist ziemlich ehrgeizig, bemerkte Sibylla.
Ohne auf das Orakel einzugehen, zwang Chloe ihre Beine, schneller zu laufen, längere Schritte zu machen, das Blut schneller zu pumpen. Die Läuferin vor ihr war eine Blondine, ein zierliches Ding, aber leicht und schnell. Chloe biss die
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