Die Seherin von Knossos
auf diese Weise erübrigte, und zermarterte sich weiter das Gehirn. Ihre Mutter hatte sich auf Santorin spezialisiert. Dort hatte sie gearbeitet, als sie Chloes Vater kennen gelernt hatte.
Jemand klopfte an, und Chloe starrte wie hypnotisiert auf die Tür.
»Herrin?«
»Herein«, rief sie, denn dank Sibylla war ihr die Sprache geläufig. Eine Nymphe trat in den Raum. Sie war ähnlich wie Chloe gekleidet, wenn auch nicht so elegant, denn ihr Rock hatte nur drei Lagen. Sie hielt die Arme im rechten Winkel vom Körper weg und hatte auch die Ellbogen im rechten Winkel abgeknickt.
»Die Sonne geht auf, Herrin. Kela kommt!«
Chloe lauschte aufmerksam auf ein Stichwort von Sibylla, doch die blieb stumm. Schlief sie etwa? Ich könnte ein paar Tipps gebrauchen, dachte Chloe. Wie zum Beispiel, was zum Teufel von mir erwartet wird! Priesterinnen-Rituale sind deine Sache!
Nichts.
Das Mädchen wiederholte den fremdartigen Gruß und hielt die Tür auf. Höchstwahrscheinlich für Chloe - Sibylla -, wer ich auch immer sein mag, dachte Chloe. Der Gang war so schmal und dunkel, dass sie kaum den Rocksaum des Mädchens sehen konnte. Dann strömte mit einem Schlag Licht herein, und Chloe blickte nach oben. Sie standen am Rande eines riesigen Treppenhauses, über dem ein Loch in die Decke geschnitten war, sodass das Licht bis ganz nach unten fiel. Bis dahin waren alle Zimmer und Gänge vollkommen schmucklos gewesen, doch hier änderte sich das.
So unauffällig wie möglich blickte Chloe sich um. Muster über Muster über Muster über Muster. Wie eine visuelle Kako-phonie von Todd Oldham in einer Vierfarb-Palette: Spiralen, Quadrate, Kreise, Rauten, Sterne. Eine gemalte Prozession lebensgroßer Geschenke-Überbringer schritt neben ihnen die Treppe hinab, beladen mit Obst und Getreide, Kisten voller Gewürze, Rhytonen voller Wein. Klavierbeinige Säulen in Rot, Schwarz und Gold akzentuierten das Gemälde.
Chloe strauchelte. Sie kannte diese Säulen! Tausend Bilder kochten in ihrem Geist hoch: eine Innenarchitektur-Klasse, die
Säulen antiker Völker verglich. »In Kreta finden wir die ersten Beispiele für viele moderne Motive. Dort wurden zum ersten Mal klavierbeinige Säulen mit schlichter Basis und ebenso schlichtem Kapitell eingesetzt. Es war auch die erste Zivilisation, von der die Welle, der griechische Schlüssel und unzählige andere, sich wiederholende Muster verwendet wurden. Die Konzentration auf die Farbtöne Goldrute, Karneol und Marsschwarz war wahrscheinlich bedingt durch die damals verfügbaren Baumaterialien.«
Sie war eine Minoerin!
Ein stiller Refrain von »Omeingott, omeingott, omeingott« folgte ihr, bis sie das untere Ende der Treppe erreicht hatten. Chloe musste sich ein anerkennendes Pfeifen verkneifen. Der Raum war riesig und bis auf den letzten Zentimeter mit strahlend bunten Mustern bedeckt: Boden, Decke, Türen. Auf allen Wänden waren in Schwarz und Rot gerahmte Bilder zu sehen.
Hier unten drängten sich die Menschen, gut aussehende Männer mit äußerst knappen Schurzen und langem Haar; Frauen mit ebenso langem Haar und ähnlich wie Chloe gekleidet. Die meisten trugen hochhackige Sandalen. Der Duft nach Parfüm, Schweiß und Essen tränkte den Raum, und Chloe war froh, der Nymphe in einen Garten folgen zu können.
Noch nie hatte ihr Sibylla so uneingeschränkt das Ruder überlassen. Gewöhnlich ließ die Frau Chloe schon beim Ankleiden wissen, dass es Zeit war, »Platz zu machen« und alles Weitere einer erfahrenen Kraft zu überlassen. Wo steckte Sibylla jetzt?
Trotzdem war das hier ganz okay. Sie war eine Minoerin. Mann, wirklich kein schlechtes Leben, dachte sie.
Die Sonne schien kraftlos vom Himmel, und Chloe erinnerten ihre klammen Brustwarzen daran, dass es wahrscheinlich erst Anfang Februar war. Auf Kreta, aber in welchem Jahr? Sibylla zu fragen, würde ihr nicht weiterhelfen. In deren Zeitvorstellung gab es keine Begriffe für A. D. oder v. Chr. Sie befand sich im vorklassischen Griechenland, so viel war klar, aber durch diese Information verengte sich der Zeitrahmen lediglich um zweitausend Jahre. Wieso war sie hier im vorgeschichtlichen Kreta?
Es wäre etwas weit hergeholt zu glauben, dass sie nur durch die Zeit reiste, um Hilfe bei Naturkatastrophen zu leisten. War es nicht ein bisschen überheblich anzunehmen, dass die Zeit neu geordnet wurde, nur weil sie so gut im Katastrophenschutz war? Es sah nicht so aus, als würde sie in diesem Leben einen Pinsel in die Finger bekommen, was
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