Die Seherin von Knossos
Arzt.«
Sein Aztlantu war grauenvoll anzuhören, doch er schien es ernst zu meinen.
»Selbst für jene, die überlebt haben, kommt jede Hilfe zu spät. Letzten Endes wird es keine ... Überlebenden geben.«
»Das tut mir Leid«, erklärte er auf Ägyptisch, eine der wenigen Wendungen, die Y’carus geläufig waren. »Hat deine Familie dort gelebt?«
»Ja.«
Die beiden Männer sahen einander an und wandten sich dann ab. Der Ägypter ging nach vorne in den Bug, doch Y’carus rief ihm nach: »Ägypter, du wirst heute Abend mit mir speisen.«
Wieder reagierte der Mann mit seiner komischen Verbeugung, und Y’carus widmete sich wieder seiner Arbeit.
Er blickte noch einmal in sein Logbuch.
Morgen würden sie in Knossos ankern, zur zeremoniellen Begrüßung Kelas.
Schlief sie oder wachte sie? Der Raum war schwarz, und einen Moment versuchte Chloe, sich ängstlich zu orientieren. Doch die Atmosphäre war nicht so bedrückend wie in der Höhle. Etwas strich über ihre Taille, und sie fuhr herum. Ihr Haar? Dichte Locken hingen über ihren Rücken herab. Sie lehnte sich
an eine Wand und versuchte angestrengt, sich zurechtzufinden.
Mit Sibylla einen Körper zu teilen, war, als würde man in einem Chinesischen Drachen herumspazieren, dachte Chloe. Nur einer sah vorne heraus, alle anderen mussten ihm blind folgen. Wenn Sibylla die Führung übernahm, nahm Chloe nur Bruch-und Versatzstücke wahr, nie ein komplettes Bild. Sie war froh, dass sie ein »Lenkungs«-Abkommen getroffen hatten.
Vor ihrer Kammer waren Geräusche zu hören, darum tastete Chloe nach ihren Kleidern. Unbeholfen entzündete sie die alabasterne Öllampe. An einem Wandhaken hing ein Rock, den Chloe über ihren Kopf zog und glatt strich, bis er über ihre Taille fiel. Er war chaotisch gemustert und bestand aus fünf gerüschten Lagen die alle unterschiedlich verziert, doch in den gleichen Safran- und Karmesintönen gehalten waren. Eine Jak-ke mit ausgepolsterten Ärmeln, die dadurch sehr steif und sehr eng wirkten, hing neben dem Rock. Chloe streifte sie über. Oben blieb die Jacke offen. Die bis zu den Ellbogen reichenden Ärmel passten, die Taille saß korrekt, doch die Verschnürung begann unter ihren Brüsten, die unbedeckt blieben.
Sie sah lange auf ihre Brüste und begriff plötzlich, dass das hier ganz normal war. Brüste waren nichts Erotisches, sie waren nichts als Milchflaschen. Rücken und Schultern, die waren sexy. Die Brüste nicht. Ein roter Ledergürtel wurde zweimal um ihren Bauch geschlungen und hinten verknotet.
Alles war voller Haare, langer, lockiger Strähnen, die sich in ihren Kleidern und ihrem Mund verfingen. Sie kam sich vor wie ein Vogel in der Mauser. Ein verirrtes Haar ausspuckend, hob sie den schweren Anhänger hoch, der zwischen ihren nackten Brüsten hing.
Ihr Geist war klarer denn je, seit sie in Sibyllas Körper aufgewacht war, das merkte sie, als sie ohne Schwierigkeiten die Zeichen darauf las. Sie war Sibylla Sirsa Olympi, Oberhaupt der Sippe des Horns, geboren in der Zeit der Schlange ... was dem dreiundzwanzigsten Dezember entsprach. Ein Schaudern überlief Chloe. Die Symbole auf der Scheibe kamen ihr vage vertraut vor, selbst aus neuzeitlichem Blickwinkel.
Sehr vertraut sogar. Sie hatte sie Zeit ihres Lebens auf dem Schreibtisch ihrer Mutter stehen sehen. Sie bedeckten eine Nachbildung der Scheibe von Phaistos, ein noch nicht entziffertes Fundstück aus der vorgriechischen Kultur auf Kreta und Santorin.
Chloe sank auf ihren Hocker und stützte den Kopf mit den üppigen Locken in beide Hände.
Das war unglaublich. Träumte sie? Sir Arthur Evans hatte den Palast von Knossos entdeckt und die dort ausgegrabenen Überreste einer uralten Kultur nach der griechischen Mythologie benannt. Ihre Mutter hatte in einer der von Asche bedeckten Städte Ausgrabungen gemacht.
Minoer.
Moms Fachgebiet. Das rätselhafte, untergegangene Volk aus der Ägäis.
Chloe fuhr hoch, packte mit bebender Hand die Öllampe und ging im Raum auf und ab. Wo war sie? Dies war nicht Santo-rin, so viel stand fest. Also musste es Kreta sein?
»O Gott, Mom, warum hab ich nicht besser aufgepasst?«, murmelte sie.
Während der Rest der Familie im modernen Kreta die Museen und Ausgrabungsstätten abgegrast hatte, war sie lieber Einkaufen und Windsurfen gegangen. Sie war noch nie in Knossos gewesen. Kein Wunder, wenn sie es nicht wiedererkannte. War das hier Knossos?
Chloe setzte die Lampe ab, ehe sie ihr noch aus der Hand fiel und sich die Frage
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