Die Seherin von Knossos
ihm wollte einfach nicht einfallen, was es war.
Er nahm die Steine in eine zitternde, runzlige Hand und wollte sie eben in seine Tasche stecken, als sie sich zu bewegen begannen. Imhotep öffnete die Hand und sah, wie sie sich drehten, wie sie wackelten und ihn blendeten, immer wenn das Licht auf die silbernen und goldenen Lettern fiel.
»Was braucht man zu dem Elixier?«, fragte er die Steine. Er warf sie aus und erhielt keine Antwort. »Braucht man Wasser zu dem Elixier?«
Nein.
Och! So ging das also! Er musste Ja-Nein-Fragen stellen. Imhotep schnippte nach einem Schreiber und begann, die Steine nach den Ingredienzien auszufragen.
Dekane später starrte Spiralenmeister wütend auf die Steine, vergrätzt über ihre offensichtliche Unfähigkeit, etwas anderes als »Ja« oder »Nein« zu sagen. Die Zeit wurde allmählich knapp für Hreesos, für Imhotep, für sie alle. Er brauchte die Antworten, die ihm die Steine geben konnten.
Durch die Steine wusste er, dass zu seinem Elixier noch eine einzige Zutat fehlte.
Die Frage war nur, welche.
Mühsam zählte Imhotep jedes Mittel auf, das er besaß, rollte dabei die Steine und las die Antwort. »Nein. Nein. Nein. Nein.« Seinen Schreiber hatte er längst wieder weggeschickt. Imhotep zermarterte sich das müde Gehirn. Er war so dicht dran, bei Kela, so dicht! Erschöpft warf der Alte die Steine erneut aus.
Nein.
Er nannte ein weiteres Kraut.
Nein.
Noch eines.
Nein.
Noch eines.
Nein.
Spiralenmeister seufzte und wandte sich der nächsten Liste zu. Er musste die letzte Zutat ausfindig machen! So kurz vor dem Ziel durften sie einfach nicht versagen! Er klappte die Lederseite um und nahm seine Befragung wieder auf.
Die Steine antworteten wie zuvor.
Nein.
Nein.
Nein.
Nein.
»Was können wir tun, um unser Volk zu retten?«, fragte er rhetorisch und warf die Steine. Sie klapperten lange vor sich hin. Was hatte das zu bedeuten, Iii?
Taubheit stahl sich in seinen Atem, und der Schmerz quetschte ihm den Schädel zusammen. Imhoteps Hand erschlaffte und die Steine rutschten über den bemalten Boden in verschiedene Richtungen davon, sodass die eingeritzten Buchstaben auf den Kacheln tanzten.
»F-L-I-E-H-T!«
Y’Carus stapfte steif über das schaukelnde Deck.
Geistesabwesend hatte er geholfen, das Segel zu hissen, während gleichzeitig die nahen Gespräche wie auch die Trommel des Taktgebers dumpf gegen seinen Schmerz anklopften. Neot-ne. Allein ihren Namen auszusprechen war wie der scharfe Schnitt einer Klinge. Er sah über das Meer. Auch wenn die qualmende Insel längst weit weg war, wollte ihm ihr Anblick einfach nicht aus dem Kopf.
Als hätte ein Riese von oben mit einer Klinge dreingeschlagen, war Delos in zwei Hälften geteilt.
Wo einst an den Häusern der Weber, Färber und Händler vorbei die Hauptstraße verlaufen war, zerfetzte nun ein tiefes, ausgefranstes Loch, halb ausgefüllt mit Häusern und Leichen, die Stadt.
Der Fluss, vom Meer zu Fluthöhe aufgepeitscht, hatte alle in den Tod gerissen, die nicht durch das Erdbeben umgekommen waren.
Oder in den Flammen. Gedankenverloren schüttelte Y’carus den Kopf, um die Frage eines einfachen Matrosen zu bestätigen, dessen Worte in Y’carus’ Erinnerung an die Lavaströme untergingen. Wie sich windende Schlangen waren Ströme geschmolzenen Gesteins vom Gipfel zum Meer hinabgeglitten. Sowie Y’carus von dem Ausbruch gehört hatte, hatte er sich selbst, sein Schiff und seine Mannschaft bis an die Grenzen der Belastbarkeit getrieben.
Dennoch war er zu spät gekommen.
Sie waren nachts an der Insel gelandet und vor Entsetzen verstummt angesichts des Berges, der rot und schwarz glomm wie das Holz eines verloschenen Feuers. Sie konnten nicht am Ufer anlegen; der Hafen war von Trümmern verstopft, und von Leichen.
Mit einem kleinen Ruderboot hatte er ans Ufer übergesetzt, wo er seinen Männern befohlen hatte, alle Überlebenden einzusammeln und sie auf die sichere Nachbarinsel Paros zu bringen. Y’carus konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass es inzwischen auf dem Meer am sichersten war. Den Inseln konnten sie von nun an nicht mehr trauen; waren sie Freund oder Feind?
Nicht einmal die Seegefechte der Vergangenheit hatten ihn auf ein solches Bild der Zerstörung und des Verlustes vorbereitet. Die Lava hatte zwar aufgehört zu fließen, doch sie deckte alles zu und war so heiß, dass die Haare an seinen Beinen versengt wurden, wenn er nur daran vorbeikam.
Aus der Mischung von Schlamm und Gestein
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