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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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sagte, ich käme in einer Minute. Auch sie sieht erschöpft aus.
29. September
    Lucy war während der Ruhezeit schon ewig nicht mehr da.
    Ich bin sicher, sie ist drüben bei Ernessa. Ich weiß nicht, wieso Lucy Deutsch und Französisch gewählt hat, wenn man einmal davon absieht, dass ihr Vater darauf besteht, sie müsse Deutsch lernen. Sie ist schlecht darin, noch schlechter als in Französisch. Sie müht sich damit ab. Ich werde mich nicht aufregen, weil sie mit Ernessa zusammen ist. So habe ich mehr Zeit für mein Tagebuch. Ich verstehe nur nicht, weshalb Ernessa sich derart für Lucy interessiert, die nett und wunderbar, aber so gar nicht ihr Typ ist. Sie liest nur Bücher, die sie für die Schule braucht. Und kriegt sie kaum jemals durch. Dora und ich sind eher ihr Typ. Doch wenn es Lucy in Deutsch hilft und sie dieses faulige Zimmer ertragen kann … Der einzige andere Mensch, der jemals dort hineingeht, ist Charley, doch vermutlich überdeckt der Geruch von Pot alles andere. Außerdem würde Charley für einen Joint so ziemlich alles tun. Aber Lucy ist anders. Sie ist sehr ehrlich.
    Das Zimmer ist groß, und Ernessa lässt es kahl wie eine Mönchszelle. Sie ist auch wie ein Mönch. Eine Nonne, meine ich. Sie knabbert nichts zwischendurch, trinkt keine Limo und scheint es auch nicht zu vermissen. Aber sie raucht viel. Nonnen rauchen vermutlich nicht. Sie rennt nach dem Abendessen sofort in den Aufenthaltsraum, um sich eine anzuzünden, und trinkt nicht mal Kaffee. Wenn ich nach dem Abendessen keinen Kaffee trinke, schaffe ich die Hausaufgaben nicht. Ich esse immer so viel, und wenn es draußen kalt ist, ersticke ich beinahe in meinem warmen Zimmer, selbst bei offenem Fenster. Ich schlage ein Buch auf und beginne zu lesen, dann fallen mir die Augen zu und …
    Ich glaube, Ernessa macht in ihrem Zimmer nie das Fenster auf. Deshalb stinkt es wohl auch so. Einmal habe ich bei ihr angeklopft, weil ich Lucy suchte. Sie sagte nicht einfach »herein«, sondern machte selbst die Tür auf. Sie stand auf der Schwelle und hörte sich an, was ich von ihr wollte. Und mich würgte es fast, als die Tür aufging.
    »Ich suche Lucy. Weißt du, wo sie ist?«, brachte ich mühsam heraus. Sie ist sicher ziemlich klug und interessant, gibt mir aber stets das Gefühl, sie zu belästigen. Ich werde nicht mehr bei ihr klopfen.
30. September
    Ob mit mir etwas nicht stimmt? Ich verspüre keinerlei Zwänge. Die anderen Mädchen müssen essen, rauchen, Drogen nehmen, telefonieren oder Kleider kaufen, auf Partys gehen, Musik hören oder mit Jungs zusammen sein. Ich brauche das alles nicht.
    Gestern Abend kam Sofia, nachdem das Licht ausgeschaltet war, in mein Zimmer. Sie war kurz vor dem Verhungern und wollte die Küche plündern. Das hat niemand mehr versucht, seit im letzten Jahr eine Gruppe Mädchen dabei geschnappt wurde und ziemlichen Ärger bekam. Lucy wollte nicht mitgehen. Sie verstößt nicht gern gegen die Vorschriften, aber ich war dabei. Wir überredeten Lucy, und dann kroch Sofia über die Dachrinne, um Charley von nebenan zu holen.
    Charley hatte die Dachrinnen vor Jahren entdeckt, als wir in die neunte Klasse gingen und im obersten Stock wohnten. Eines Nachts wachte ich auf, und sie hockte da wie eine Riesenfledermaus und hämmerte gegen mein Fenster. Ich öffnete es, und sie fiel ins Zimmer. Sie war den ganzen Weg von ihrem Zimmer, das drei Türen weiter lag, über die Dachrinne herübergekrochen. Zuerst hielt ich sie für verrückt, immerhin waren wir im dritten Stock. Wenn man runterfiel, war’s das. Allerdings sind die Rinnen aus Kupfer und ungefähr dreißig Zentimeter breit, daher ist es nicht ganz so gruselig, solange man auf allen vieren kriecht und nicht hinunterschaut. Bald machten wir es alle. In dem Jahr wurde ich nur ein einziges Mal im Dunkeln in Charleys Zimmer erwischt, obwohl Mac bei uns Fluraufsicht hatte. Sie lauerte immer im Flur, nachdem das Licht ausgeschaltet war, um uns beim Herumschleichen zu erwischen. Mir tun die armen Neuntklässlerinnen Leid. Sie quält sie heute genauso, wie sie mich damals gequält hat, sobald ich auch nur einen Fuß in den Flur setzte.
    Charley war natürlich dabei. »Jetzt, wo du es sagst, habe ich auch ganz schön Kohldampf.«
    Wir beschlossen, bis zwölf zu warten. Dann geht Miss Wells, die Telefonistin in der großen Eingangshalle, zu Bett. Wir gingen im Schlafanzug die Haupttreppe hinunter, als wäre heller Tag. Im Dunkeln kam uns der Speisesaal besonders leer vor. Die

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