Die Sehnsucht der Falter
die Lippen geöffnet. Ihre blasse Haut war makellos. Einen Moment lang konnte ich beinahe verstehen, warum Lucy sie gern hatte. Lucy merkte nicht einmal, dass ich sie ansah. Ich hätte nicht gedacht, dass ihre blassblauen Augen so eindringlich blicken können.
Gleich nach dem Essen ging ich auf mein Zimmer und nahm einen Stapel Fotos hinten aus dem Schreibtisch. Ich holte einen Streifen Fotos von Lucy und mir hervor. Wir hatten sie in einem kleinen Automaten am Bahnhof gemacht. Sie sahen bereits braun und verblichen aus, dabei waren sie erst ein Jahr alt. Wir bemühten uns, nicht zu lachen, ernst zu wirken. Doch beim letzten Bild waren wir herausgeplatzt. Ich bin sicher, damals war ich glücklich, so glücklich, dass ich es nicht einmal merkte. Ich betrachtete ein altes Schwarzweißfoto meines Vaters. Es ist verknittert, eine Ecke fehlt. Rundes Gesicht, schütteres Haar, tief liegende braune Augen – vermutlich fanden nur meine Mutter und ich ihn schön. Ich glaube, er war da glücklich. Er lächelt nicht, also kann ich nicht ganz sicher sein, aber er sitzt am Küchentisch im Strandhaus, und meine Mutter steht hinter ihm an der Spüle, ein bisschen unscharf, aber in seiner Nähe. Ich kann ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Er hatte sie gern um sich. Er streckte den Arm nach ihr aus, ohne zu merken, was er tat. Es war wie ein nervöser Tick. Und manchmal war sie nicht da, dann schaute er sich um, ganz verstört. An jenem Abend war sie da. Auf dem Tisch standen eine Weinflasche und zwei halb volle Gläser. Ich kann mich nicht an den Abend erinnern und habe keine Ahnung, wer das Foto gemacht hat. Es muss noch jemand außer uns da gewesen sein. Vermutlich war ich schon im Bett, schlief ein im Stimmengemurmel, das aus der Küche drang. In Märchen gibt es immer eine Zeit, in der alle Glück empfinden, selbst wenn es im nächsten Moment auf immer verloren geht. Ernessa hat ganz und gar Unrecht, es sind keine Bilder von falschen Augenblicken.
22. Oktober
Heute Morgen beim Frühstück fragte ich: »Wer hat Ernessa eigentlich mal essen sehen?«
Nur Kiki interessierte sich dafür, wohl weil sie essen kann, was sie möchte, und dabei immer gertenschlank bleibt. Die anderen finden es cool, nichts zu essen. Sie bewundern Ernessa, weil sie dem Essen widerstehen kann.
»Vielleicht isst sie heimlich«, meinte Kiki. »Sie macht angeblich Diät und stopft sich nachts mit lauter ungesundem Zeug voll. Lucy, du müsstest das doch wissen. Du bist so oft in ihrem Zimmer. Feiert ihr zusammen Fressorgien?«
»Mir ist nicht danach, über Ernessa zu sprechen«, meinte Lucy. Sie redete mit Kiki, sah dabei aber mich an.
Selbst Kiki fällt auf, wie viel Zeit Lucy mit Ernessa verbringt.
»Es gibt so eine Krankheit«, erklärte Betsy. »Bei der hungert man sich zu Tode. Man hört auf zu essen, und der Körper frisst sich selbst.«
»Wisst ihr noch letztes Jahr, die Sache mit Annie Patterson?«, fragte Carol. »Plötzlich sah sie aus wie eine KZ-Insassin. Man konnte alle Knochen im Gesicht sehen. Wie bei einem Totenschädel. Und sie wollte immer noch nicht essen. Darum musste sie auch von der Schule.«
»Ich glaube, das Problem werde ich nie haben«, seufzte Sofia.
»Wenn man zu viel abnimmt, kann der Körper nicht mehr warm bleiben, und es wächst einem Flaum auf den Armen«, sagte Betsy. »Keine Haare, eher Daunen. Wie bei einem Tier.«
Das fanden alle eklig und sagten, sie solle aufhören.
»Ich habe es aber gelesen«, sagte Betsy. »Das denke ich mir nicht aus.«
»Ich glaube nicht, dass Ernessa sich zu Tode hungert«, meinte Kiki. »Schaut sie euch doch an. Sie hat den perfekten Körper. Falls ihr meint, sie hätte diese Krankheit, könnt ihr ja mal ihre Arme nach Flaum abtasten.«
»Ihr redet verdammte Scheiße«, sagte Lucy, schob ihren Stuhl zurück und ließ das Frühstück stehen.
Ich hatte Lucy noch nie fluchen hören.
Ich bin genauso wütend auf Lucy wie sie auf mich. Ich hatte das Thema nur angesprochen, um zu sehen, ob noch jemandem außer mir aufgefallen war, dass Ernessa nicht isst. Ich denke mir das nicht aus. Sie isst einfach nicht. Zum Glück fahre ich am Wochenende mit Sofia nach Wilmington. Ich möchte mal ein ganzes Wochenende nicht an Ernessa und Lucy denken. Nach dem Frühstück kam mir der Gedanke, mal an Ernessas Armen zu fühlen. Allerdings ist sie kein Mensch, den man einfach anfasst, und sie trägt immer lange Ärmel und Strümpfe, selbst wenn es draußen warm ist. Irgendwie glaube ich nicht, dass sie
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