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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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Schule gedacht.
    Sofia versteht etwas Wichtiges, das die anderen Mädchen nicht kapieren, nämlich dass nichts so ist, wie es scheint. Sie sind alle so nüchtern. Wir können auch stundenlang über unsere Familien reden, ohne uns zu langweilen.
    Am Sonntag waren wir bei ihren Großeltern zum Mittagessen. Sie haben ein richtiges Anwesen. Vor zweihundert Jahren war das Haus nur ein kleines steinernes Cottage. Im Laufe der Zeit wurden mehrere Flügel angebaut. Es gibt einen Aufzug und Geheimgänge zwischen den Schlafzimmern im oberen Stock. (Wofür, weiß ich nicht. Ich bezweifle, dass ihre Vorfahren heimliche Liebschaften oder politische Intrigen pflegten.) Sofia ging mit mir in den Keller. Ein Kaninchenbau voller kleiner, dunkler Räume. In einem standen Regale mit alten Konservendosen, ganz schmutzig und verrostet. Vermutlich wäre es tödlich, davon zu essen. Es gab auch einen kleinen Gasherd und eine Maschine, die Sofias Großvater aus einem alten Fahrrad gebastelt hatte, um Strom zu erzeugen. Doch wer möchte schon einen Atomkrieg überleben? Man könnte den Bunker nie mehr verlassen. Man wäre unter der Erde gefangen, bis einem Essen und Trinken ausgehen. So würde der Luftschutzbunker bald zum Grab.
    Sofias Großeltern sind immer sehr nett zu mir, vor allem ihr Großvater, obwohl ich kaum mit ihm geredet habe. Es muss an meinem Vater liegen. Er sagte immer, die Reichen umgäben sich gern mit Künstlern und Dichtern. Sofias Großvater verbringt seine Zeit mit wissenschaftlichen Erfindungen und harkt Laub im Park, weil er so reich ist, dass er nie arbeiten muss. Sofia findet es sehr traurig. Auf der Anhöhe hinter dem Haus gibt es ein kleines Atelier, das ihre Großmutter hat bauen lassen, um darin zu malen. Sie malt nicht mehr, weil sie fast blind ist, hat aber erst damit aufgehört, als sie beinahe achtzig war. Ihre Gemälde hängen im ganzen Haus. Seltsam, aber sie sehen aus, als hätte eine junge Frau sie gemalt. Sie verändern sich nicht, verströmen eine charmante Unschuld. Selbst ich bin da ja schon befangener.
    Nach dem Mittagessen gingen wir auf den Dachboden. Der Raum ist gewaltig, voller Bücherregale, Teppiche und Möbel. Wie ein Haus im Haus. Aus einer Schreibtischschublade holte Sofia die Tagebücher, die ihre Großmutter und Urgroßmutter als Mädchen geführt hatten. Sie hatte sie dort oben gefunden, aber niemandem davon erzählt, weil sie nicht genau weiß, ob sie sie lesen darf. Wir lasen laut aus ihnen vor. Ihre Großmutter war sehr sachlich. Sie führte immer genau auf, was sie tagsüber getan hatte – wo sie gewesen war, was sie gegessen hatte, wie das Wetter war und so weiter. Nichts berührte sie; selbst eine Reise durch Europa machte keinen besonderen Eindruck auf sie: »Bei Einbruch der Dunkelheit in Zürich angekommen. Konnte beim Abendessen kaum wach bleiben. Wetter wie gestern. Wir machten eine nette Bootsfahrt über den See und aßen in einem kleinen Ort mit einer mittelalterlichen Burg.« Sofias Urgroßmutter war das genaue Gegenteil. Ihre zuckersüßen Ergüsse wollten gar kein Ende nehmen: »Die Hand des Einen, der so viel größer ist als wir, hatte den Pinsel erfasst und war damit in breiten purpurnen und roten Streifen über den Himmel gefahren. Vom Deck des Schiffes aus konnte ich sehen, wie das Werk Seiner Hände den ganzen Himmel bis hin zum Horizont klar erleuchtete. Es war eine Leinwand, von der Michelangelo nur träumen konnte. Die majestätische Schönheit berührte mich tief im Herzen, mir wurde ganz schwindlig. Ich ergriff die Hand meines Liebsten.«
    Ihre Urgroßmutter war als Sechzehnjährige mit dem Verlobten ihrer Schwester durchgebrannt. Sie war verrückt nach ihm. Sofias Großmutter konnte ihrer Mutter nie verzeihen, dass sie Schande über die Familie gebracht hatte. Deshalb ist sie auch so verklemmt. Vielleicht kann sie sich nur beim Malen gehen lassen und Schönheit erschaffen. Ich liebe solche Geschichten. Ich könnte sie den ganzen Tag hören.
    Letztlich ist es egal, ob die Worte wahr sind oder nicht. Sie dienen dem gleichen Zweck.
     
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