Die Sehnsucht der Falter
Wasser, gewichtslos, unsicher, ob du je wieder auftauchen wirst, aber es ist dir auch egal. Dazu muss man geboren sein.
Manchmal frage ich mich, wie ich ein ganzes Leben voller Gedanken überstehen soll. Ein Leben, das nur aus Worten, Worten, Worten besteht, die sich in meinem Kopf vermischen. Bin ich dazu geboren?
17. Oktober
Heute (am Samstag) geht es mir viel besser. Lucy beschloss, wieder in der Schule zu bleiben, und wir fuhren mit dem Zug in die Stadt. Ich glaube, sie wollte Ernessa mitnehmen, aber ich gab ihr keine Gelegenheit, sie zu fragen. Ich sagte: »Lass uns allein fahren. Dann können wir machen, was wir wollen.«
Wir liefen stundenlang herum. Als wir müde wurden, setzten wir uns in einen Park, beobachteten die Leute und erfanden die unglaublichsten Geschichten über sie. Alle hatten schreckliche Dinge zu verbergen: Mord, Inzest, Ehebruch, Alkoholismus. Besser gesagt, ich erfand die Geschichten, und Lucy lachte darüber. Wir aßen nett zu Mittag und stopften uns mit riesigen Fudge-Eisbechern voll. Einfach perfekt. Auf dem Weg zum Bahnhof zog Lucy mich in einen Plattenladen. Seit sie bei Carol Tea for the Tillerman von Cat Stevens gehört hat, will sie die Platte unbedingt haben.
Als wir den breiten Bürgersteig entlanggingen, sang Lucy und schwang die Papiertüte mit der Schallplatte hin und her. Ich hörte nicht genau auf den Text. Irgendwas von langen Booten, Schlüsseln, Türen und fernen Ufern.
»Ich kapiere den Text nicht ganz«, sagte sie. »Du vielleicht?«
»Hab das Lied noch nie gehört.«
Sie muss Carols Platte oft gehört haben, denn sie sang weiter und kannte den ganzen Text auswendig.
»Für mich ergibt es keinen Sinn«, meinte ich verärgert. »Wie können Boote einen erobern?«
Lucy sah mich an und lächelte. »’tschuldigung, es geht mir einfach nicht aus dem Kopf.«
Lucy weiß, dass ich diese Musik nicht mag. Ich versuche, sie mir anzuhören, aber sie langweilt mich. Lucy hält mich für arrogant. Manchmal verstehe ich gar nicht, warum wir so gut befreundet sind.
Auf der Rückfahrt im Zug waren wir beide müde, verspürten dieses angenehm schläfrige Gefühl, wenn es draußen dunkel wird und man mühelos dahinschießt. Draußen sind alle preisgegeben, während man drinnen sicher und geschützt ist. Durch die getönten Zugfenster sieht die Welt grünlich und weit entfernt aus, wie ein altes Gemälde mit gelblichem Firnis. Ich las, und Lucy schlief an meiner Schulter. Ich kann noch immer glücklich sein.
18. Oktober
Stiller Sonntag. Lucy ist heute Morgen in die Kirche gegangen, ich bin allein. Ich versuche, nicht ans Alleinsein zu denken. In zwei Stunden kommt Lucy zurück. Seit gestern ist nichts passiert, daher schreibe ich über Miss Norris.
Ich habe jetzt das zweite Jahr bei ihr Griechisch. Sie hat eine Wohnung im dritten Stock, in der sie früher mit ihrer Mutter wohnte, doch jetzt lebt sie allein. Sie ist alt, vermutlich über siebzig. Sie hat wohl den größten Teil ihres Lebens in der Schule verbracht. Sie muss ein College besucht haben (das Brangwyn College gegenüber?) und dann wieder hergekommen sein, um bei ihrer Mutter zu leben (was ist aus ihrem Vater geworden?), die ebenfalls Griechisch und Latein unterrichtete. Bei den meisten Leuten wäre das irgendwie verdreht, doch bei ihr wirkt es vollkommen natürlich. Sie gehört zur Schule, aber doch nicht ganz. Ich sehe sie nie mit den anderen Lehrerinnen. Sie scheint nur ihre Bücher, Vögel und Pflanzen zu brauchen. So wäre ich auch gern. Nach dem Unterricht bei ihr geht es mir immer besser, selbst wenn ich mit der Übersetzung zu kämpfen hatte.
Vielleicht Hegt es am Sonnenlicht, das die Räume in diesem Teil der Residenz durchflutet. Im ersten Jahr hier träumte ich davon, älter zu sein und in ihre Wohnung gehen zu können. Deshalb wählte ich Griechisch. Ich stellte mir vor, ihr Reich zu betreten und daran teilzuhaben: an dem Licht, den Singvögeln und den geheimnisvollen Symbolen jener Sprache, die an Vogelspuren im Sand erinnern. Sie hat weißes Haar. Weiße Haut. Sie hat jegliche Farbe verloren. Sie legt die Hand auf den Tisch, und ich kann ihrem Blut folgen, wie es durch die bläulichen Adern unter der papierdünnen Haut rinnt. Ich sehe, wie das Blut sich bewegt. Alles an ihr ist zerbrechlich und alt. Doch wenn sie lächelt und die weißen Augenbrauen hochzieht, sieht sie wie ein kleines Mädchen aus. Sie kann tun, was immer sie will. Sie lässt ihre Vögel durch die Wohnung fliegen, zwischen den Pflanzen
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