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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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nahm. Sie reichte sie Lucy und gab ihr Feuer wie ein Mann. Lucy saß auf der Stuhlkante, rauchte und hörte Ernessa zu. Deshalb war sie so ungeduldig gewesen. So war sie früher nie. Ich konnte immer auf sie zählen.
21. Oktober
    Mein eigenes Blut zu sehen, ist der Anfang vom Ende.
    Heute wartete ich vor der Ruhezeit in Mrs. Haltons Wohnzimmer, weil ich eine Erlaubnis fürs Wochenende unterschreiben lassen wollte. Ich kam gerade vom Hockey, meine Beine im Sporttrikot waren verschwitzt. Ihr Sofa ist mit tiefrotem Samt bezogen und sieht aus, als hätte noch nie jemand draufgesessen. Ich wagte nicht, es zu berühren. Ich schlenderte durchs Zimmer, schaute mir Nippes an, den sie auf einem Glastisch aufgebaut hat: eine Schäferin aus Porzellan, eine schwarze chinesische Lackdose, eine mit rotem Brokat bezogene Spieldose, ein silbergerahmtes Foto ihres verstorbenen Mannes. Ein ganzes Leben, eingefangen in wenigen Gegenständen und einem leblosen Foto. Hat er je gelebt, oder ist er nur ein Stück Papier? Ich konnte die traurigen Dinge in diesem traurigen Zimmer, auf das sie so stolz ist, kaum ertragen. Es erinnert einen an ein Leben, das nicht mehr existiert. Woher sollen wir wissen, dass unser Leben wirklich stattgefunden hat, dass wir nicht einfach Details anhäufen, nach und nach alles erfinden?
    Noch bevor ich wusste, was ich tat, hob ich die Porzellan-Schäferin hoch. Ich wollte die glatte, kalte Oberfläche berühren. Dabei tropfte etwas aus meiner Nase. Ein roter Blutstropfen, so dunkel, dass er beinahe schwarz aussah, fiel in einem vollkommenen Kreis auf das Glas des Tisches. Ich hielt mir die Hand vor die Nase, und sah mich nach einem Tuch um. Ernessa stand genau hinter mir und schaute über meine Schulter auf den Tisch. Sie musste ins Zimmer geschlüpft sein, während ich in meine dummen Gedanken versunken war. Ich wollte das Blut vom Tisch wischen, hinterließ aber eine klebrige Schliere.
    »Als ich klein war, sagten die Bauern, Nasenbluten bringt Glück.«
    Ich weigerte mich, sie zu beachten. Ich starrte auf den Glastisch, die Blutschliere, die Gegenstände.
    »Keine Sorge, ich verrate Mrs. Halton nicht, dass du mit ihrer kostbaren Schäferin gespielt hast.«
    Behutsam stellte ich die Figur wieder auf den Tisch.
    »Diese billigen, sentimentalen Dinge sollten dich nicht traurig machen«, meinte sie. »Am liebsten würde ich sie alle auf den Boden schmeißen.«
    Mrs. Halton bedeutet mir wenig, doch ihre Illusionen tun keinem weh. Soll sie sie behalten. Ernessas Worte klangen so grausam.
    »Sie braucht diese Dinge«, sagte ich. »Zum Weiterleben.«
    Ernessas Gesicht war meinem ganz nahe. »Ich brauche keine Dinge, um mich an meinen Vater zu erinnern«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Keine Dinge, die ich anfassen kann. Papierfetzen, die die falschen Augenblicke eingefangen haben. Die Zeit fließt um sie herum, ohne sich auch nur zu kräuseln.«
    Ich sah sie an. Der wilde Ausdruck ihrer schwarzen Augen überraschte und ängstigte mich. Es hatte nichts mit dem Klang ihrer Worte zu tun, die sanft auf- und abschwollen.
    »Ich brauche sie auch nicht«, flüsterte ich.
    Ich rannte zu meinem Zimmer, wobei ich meine Nase umklammerte. Ich weiß nicht, ob ich eine Blutspur hinterließ. Als ich drinnen war, schlug ich die Tür zu und schloss mich im Bad ein. Das Blut sickerte zwischen meinen Fingern hindurch, rann über meine Hand und über mein Handgelenk. Ich blickte in den Spiegel. Ich sah aus, als hätte mir jemand auf die Nase geschlagen. Noch nie hatte ich so schlimmes Nasenbluten gehabt. Als ich den Kopf in den Nacken legte, spürte ich das dicke Blut im Rachen. Der metallische Geschmack würgte mich. Ich spülte mir Gesicht und Hände ab, sah zu, wie das Wasser das tiefe Rot im Becken rosa färbte. Ich blieb lange auf der Toilette sitzen, den Kopf zwischen den Knien, und drückte meine Nase zusammen, um das Blut zu stoppen. Ich zittere noch immer.
Nach dem Abendessen
    Ich musste lernen, mit anderen Menschen umzugehen und Spaß zu haben. Ernessa ist nicht wie wir. Sie wird niemals wie wir sein.
    Ich entdeckte Ernessa am anderen Ende des Speisesaals und starrte sie an, bis sie sich umdrehte. Ich wollte wissen, ob sie irgendwie auf unsere Begegnung reagieren würde. Sie schaute lange in meine Richtung, schien mich aber nicht anzusehen. Als ich mich umdrehte, saß Lucy am Tisch hinter mir, sie erwiderte Ernessas Blick. Ernessa schaute nicht mehr wild drein; sie wirkte beinahe verträumt. Ihre Augen waren groß und weich,

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