Die Sehnsucht der Falter
Das wäre nicht nötig gewesen. Immerhin ist Mac uns nicht mehr auf den Fersen. Mrs. Halton ist so faul, dass nichts sie aus ihrem Zimmer locken kann. Manchmal krieche ich noch über die Dachrinne, einfach aus Spaß. Das Dach fällt unter mir ab, ich kann den Boden nicht sehen. Es kommt mir gar nicht so hoch vor. Charley war immer am mutigsten. Einmal ist sie im dritten Stock aufgestanden und ein paar Schritte gegangen, als hätte sie festen Boden unter den Füßen, wobei sie die Arme ausstreckte, um das Gleichgewicht zu halten. Ich bekam beinahe einen Herzinfarkt, als ich das sah.
Charley wollte mir sagen, dass sie etwas über Willow herausgefunden hat. Als ich damals hörte, dass es jemanden namens Willow in der Klasse gab, stellte ich mir ein Mädchen vor, das so groß und dünn war, dass es im Wind schwankte, mit welligem, blondem Haar, das bis zur Taille reichte. Willow ist absolut nett, aber mollig und hat dunkles, strähniges Haar. Ihre riesigen braunen Augen blinzeln nie, sie sieht aus wie eine Kuh. Sie stammt aus San Francisco und ist außer Ernessa das einzige Mädchen, das so weit von zu Hause lebt. Vor ungefähr einem Monat hat sie auf dem Weg in die Stadt im Zug einen Mann kennen gelernt. Er hat sie angesprochen, sie hat vermutlich nur gekichert. Er ist Geschäftsmann, um die vierzig, mit Frau und Kindern, und sie hat jetzt eine Affäre mit ihm. Nach der Schule wartet er an der Ecke vor dem großen Tor im Wagen und fährt dann mit ihr in ein Hotel ins Zentrum, wo sie »richtig loslegen«, wie Charley sich ausdrückte. Charley hat Willow vor ein paar Tagen erwischt, als sie zu ihm ins Auto stieg, und sie gezwungen, ihr alles zu erzählen. Was für ein Fehler. Jeder weiß, dass Charley nicht den Mund halten kann.
Von Willow hätte ich so etwas am allerwenigsten erwartet. Sie sieht aus wie ein Riesenbaby. Und lacht dauernd. Ihr Lachen klingt wie Schluckauf, ihr Kinn wackelt dabei. Sie hat Charley gesagt, sie liebe Sex. Es sei eine Sucht, wie Schokolade. Sie komme nicht dagegen an.
In meinem ersten Jahr hier saßen wir hinten im Schulsaal genau vor den Lehrern, und ich starrte die ganze Zeit nur die älteren Schülerinnen an, die hinter Miss Rood auf der Bühne saßen. Eine von ihnen, sie saß vorn links, fand ich faszinierend. Ich weiß nicht, warum. Ich mochte ihren Gang, ihr schwarzes Haar. Es fiel vollkommen glatt um ihre Schultern. Sie hieß Ellen Mardsen. Ich fand sie so schön und erwachsen. Sie war perfekt, obwohl sie nicht sonderlich intelligent, nett oder interessant wirkte. Jeden Morgen starrte ich sie über das rote Gesangbuch an. Ich vergaß völlig, wie sehr ich die Kirchenlieder hasste. Eines Tages war sie nicht mehr da. Ihr Stuhl war besetzt. Alle älteren Mädchen mussten einen Platz aufgerückt sein, um die Leere zu füllen. Sie hatte nie existiert. Ich hatte mir das glänzend schwarze Haar, das sich wie ein Helm um ihren Kopf legte, wohl nur eingebildet. Nach der Versammlung herrschte Unruhe. Die Lehrerinnen wollten Ordnung schaffen, konnten uns aber nicht mehr kontrollieren, nachdem wir den Übergang erreicht hatten. Ellen hatte die Schule verlassen müssen, weil sie schwanger war. Sie konnte es nicht länger verbergen, ihre Fluraufsicht hatte es am Wochenende herausgefunden. Sie musste sofort gehen. Ihre Mutter holte sie noch am selben Tag ab. Jemanden wie sie konnte man nicht länger dulden. Sie war ein schlechtes Beispiel für uns alle. Sie war eine ansteckende Krankheit.
Ich hatte keine Veränderung an ihr bemerkt.
Ich kann mir Sex mit einem Mann einfach nicht vorstellen. Mit einem anderen Menschen so intim zu sein. Nichts zu verbergen. Ich weiß nicht, ob ich das könnte. Es müsste, wenn überhaupt, ein Junge sein, der sich genauso fürchtet wie ich, kein erwachsener Mann.
Nachdem Charley gegangen war, wollte ich weiterschlafen, konnte aber nur an Willow denken, die mit dem verheirateten Mann im Bett war. Er lag auf ihr, bewegte sich rauf und runter. Ich sah seine Arme und den Rücken, ganz behaart, den Kopf mit dem schütteren Haar, den schlaffen Bauch. Die Vorstellung machte mich ganz krank.
Letztes Jahr schlichen so viele ältere Schülerinnen hinaus und trafen sich mit ihren Freunden drüben am Brangwyn College. Es war eine wahre Sex-Epidemie.
Ich brauchte im Moment nur Freundinnen.
28. Oktober
Nach dem Hockeytraining war ich so ausgehungert, dass ich Sofia eine Schokoladenschildkröte abkaufen wollte. Sie verkauft Süßigkeiten für die Service League. Ich machte die
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