Die Sehnsucht der Falter
weiter anstarre. Ich habe kein Recht zu starren. »Mach ein Foto. Dann hast du länger was davon.«
Bis ich auf diese Schule kam, hatte ich noch nie eine antisemitische Bemerkung gehört. Miss Rood hat in beinahe zwei Jahren noch nie ein Wort mit mir gesprochen. Ich habe beim Abendessen nie an ihrem Tisch gesessen, obwohl ich an jedem anderen Tisch war. Ich bin die Klassenbeste, doch sie fragt mich nie, auf welches College ich möchte. Sie toleriert mich nur. Hätte ich meine Mutter darum gebeten, hätte sie mich wohl auf eine andere Schule geschickt. Doch ich blieb, weil ich mich mit Lucy angefreundet hatte.
An der Sache mit Ernessa bin allein ich schuld, weil ich eifersüchtig auf sie und Lucy war. Vielleicht hätten wir von Anfang an miteinander auskommen können. Vielleicht sind wir ja wirklich derselbe »Typ«.
21. November
Mein Vater saß auf meinem Bett. Er las mir eine Geschichte vor. Ich lag auf der Seite und folgte den Wörtern auf dem Papier. Das Buch war dick, der Titel prangte in goldenen und schwarzen Buchstaben auf einem seidigen, türkisen Einband. Die Seiten waren so dünn, dass die Buchstaben auf der anderen Seite durchschimmerten. Das Buch hatte er schon als kleiner Junge gehabt.
»Es war einmal eine arme Dienstmagd, die mit ihren Kisten durch den Wald zog, und als sie mitten drin war, wurde sie von einer Räuberbande überfallen …«
»Wieso haben sie eine arme Dienstmagd ausgeraubt?«, fragte ich meinen Vater. »Sie hatte sicher gar nichts, das sie ihnen geben konnte.«
Mein Vater sagte nichts. Er las weiter. »Was soll ich arme Dienstmagd nur tun: Ich habe mich im Wald verirrt, hier wohnt niemand, nun muss ich Hungers sterben.«
»Wieso hatte sie sich verirrt? Sie wusste doch, wohin sie ging, bevor die Räuber kamen. Wenn es so ist, brauchst du gar nicht weiterzulesen. Ich will die Geschichte nicht hören.«
Mein Vater las nicht die Wörter im Buch. Oder ich konnte durch die Seite hindurchsehen und nicht erkennen, wo er gerade las. Die Geschichte ging weiter. Die verzweifelte Dienstmagd gab sich in Gottes Hände. In genau diesem Moment flog eine weiße Taube herbei und rettete sie. Mit einem Zauberschlüssel verschaffte sie ihr Essen, Kleider, einen Platz zum Schlafen. Die kleine Dienstmagd lebte glücklich im Wald. Eines Tages bat die weiße Taube sie um einen Gefallen. Würde sie zu einem Häuschen gehen und einer alten Frau einen goldenen Ring stehlen? »Von ganzem Herzen«, antwortete sie. Das Mädchen ging geradewegs zu dem Häuschen, doch bevor sie den goldenen Ring stehlen konnte, kam die alte Frau mit einem Vogelkäfig aus der Tür gerannt. Das Mädchen lief ihr hinterher. Man konnte den goldenen Ring im Schnabel eines grünen Vogels erkennen. Der Vogel hielt ihn fest, ganz fest. Man lief der alten Frau lange hinterher. Man konnte sie nicht einholen, obwohl man selbst jung und stark war und die Frau alt und gebeugt. Wie sehr man sich auch bemühte, die alte Frau war einem immer ein paar Schritte voraus, lockte einen mit dem eingesperrten Vogel. Man bewegte die Beine, kam aber nicht voran. Schließlich holte man die alte Frau ein, streckte die Hand aus und berührte die Käfigstangen, doch die alte Frau lief um eine Wegbiegung und verschwand.
»So geht die Geschichte nicht aus«, schrie ich meinen Vater an. »Ich weiß, wie es gehen soll. Die Dienstmagd bekommt den goldenen Ring. Sie rettet den Prinzen, der von einer bösen Hexe in einen Baum verwandelt wurde. Jeden Tag wurde er für einige Stunden zu einer weißen Taube. Solange die Hexe den Ring hatte, konnte er sich nicht in einen Menschen zurückverwandeln. Auch seine Diener und Pferde hatte sie in Bäume verzaubert. Die Dienstmagd befreite den ganzen Wald. Und sie heiratete den Prinzen und wurde eine Prinzessin. So geht es immer aus.«
Mein Vater las die Geschichte weiter, während ich ihn anschrie. »Und am Ende«, las er, »war man im Wald verloren. Man lehnte sich an einen Baumstamm, gab sich in Gottes Hände und war entschlossen, dort zu bleiben, was immer auch geschah.«
23. November
Mein Tagebuch wird von Lügen ruiniert. Eigentlich müsste ich alles durchstreichen, was ich letzten Freitag über Ernessa geschrieben habe.
Nach der Schule gingen Dora, Charley und ich ins Café vom Brangwyn College. Ich bin gern dort. Wir trinken Kaffee, rauchen und tun, als wären wir College-Studentinnen. Nur dass wir ja Uniformen tragen müssen. Charley hat deshalb immer ihr Sporttrikot an, darin sieht sie aus wie zwölf. Dora
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