Die Sehnsucht der Falter
interessieren sich doch bloß für Klamotten, Jungs und Make-up. Darüber würden sie nur zu gern reden. Außerdem haben sie die Geschichte wahrscheinlich gar nicht gelesen. Irgendjemand musste etwas sagen. Ich erklärte, dass ich die Figur von dem Moment an glaubwürdig fände, in dem der Verfasser begreift, was sie ist.
Mr. Davies wirkte verwirrt.
»Als die Figur, die er geschaffen hatte, für ihn echt wurde, wurde auch der Rest der Geschichte echt«, erklärte ich.
»Du stimmst also mit Coleridge überein, wenn er meint, der Autor würde hier freiwillig jegliche Skepsis aufgeben?«
»Das hat nichts mit Skepsis aufgeben zu tun. Ich spreche davon, dass hier etwas erschaffen wird, das existiert, so wie alles in diesem Raum hier existiert. Etwas lebendig gemacht.«
»Die Geschichte ist symbolisch«, sagte Mr. Davies. »Darum geht es doch. Nicht ob Dinge echt sind, sondern was sie bedeuten.«
Mir war klar, was er vorhatte. Er wollte mich davon überzeugen, dass das Übernatürliche nicht existiert. Das Ziel des Kurses besteht darin, uns klarzumachen, dass es nur in der Phantasie des Schriftstellers existiert, ein Ausdruck seines Unterbewusstseins ist. Wie ein Traum. Oder Erinnerungen. Mein Vater hätte mich verstanden. Er hätte mir zugestimmt, dass Mr. Davies letztlich keine Phantasie besitzt. Ich musste ihm antworten.
»Symbole interessieren mich nicht. Mich interessiert, was da ist, auch wenn es nicht real aussieht. Ich will wissen, wie es ist, Carmilla zu sein. Leidet sie jemals? Ist es langweilig, ewig zu leben? Was empfindet man, wenn man sich an seinen eigenen Tod erinnert? So was eben. Wollen Sie keine Antworten? Will sonst niemand Antworten?«
Ich sah mich um, und alle Mädchen schauten mich grinsend an. Sie wirkten aalglatt, als wäre ihnen alles egal.
Sie folgen dem Minutenzeiger, der ums Zifferblatt wandert, warten auf die laute Klingel, die sie befreit. Sie springen von den Stühlen und rennen hinaus und denken nie wieder daran, sondern sagen höchstens: »Die ist wirklich seltsam, was?«
16. November
Ich bin es leid, über sie alle in meinem Tagebuch zu schreiben. Sie nehmen mehr Raum ein, als ihnen zusteht. Ich mag Ernessa nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich Lucy noch mag.
Nach dem Abendessen waren wir zum Rauchen im Aufenthaltsraum. Sofia lag auf dem Sofa, den Kopf auf meinem Schoß, weil es ihr so schlecht ging. Sie hat furchtbare Blutungen und Krämpfe. Nachts steht sie auf, hat Durchfall und muss sich übergeben. Letzte Nacht weckte sie mich, und ich blieb stundenlang bei ihr, während sie auf der Toilette saß. Die Krankenschwester sagt, sie müsse sich untersuchen lassen, falls es nicht besser wird. Sofia fürchtet sich vor all dem Blut, mehr aber noch vor dem Krankenhaus. Lucy kam herüber und umarmte sie, Ernessa war natürlich dabei.
»Das ist ein echter Fluch«, stöhnte Sofia. »Muss ich das etwa dreißig Jahre lang ertragen, nur um Sex zu haben?«
»Sex kannst du immer haben«, meinte Ernessa. »Das hier ist dazu da, um Babys zu bekommen.«
Alle stöhnten.
Als Ernessa in Sofias Nähe kam, sah es aus, als würgte es Ernessa im Hals. Sie setzte sich rasch in die andere Ecke und rauchte, bis es klingelte. Lucy sah zu ihr hinüber. Wollte sie wissen, ob es ihr gut ging? Dabei war nicht sie es, die wie gelähmt vor Krämpfen war. Ernessa verwandelte sich in eine Rauchsäule. Wir anderen gingen zusammen nach oben. Sie kam erst nach, als alle weg waren.
Zu Lucy werde ich nichts sagen, sonst wird sie noch wütender. Sie wird sagen, ich sei wie besessen von Ernessa, so wie ich letztes Jahr von meiner Diät besessen war. Wann immer ich dieses Thema anspreche, wird Lucy sauer und sagt, sie wolle nicht über Ernessa reden. Sie tut, als redete ich von nichts anderem mehr.
Ich wette, Ernessa hat ihre Periode noch nicht und das Ganze stößt sie ab, genau wie Essen und »zur Frau werden«, wie es in der Gesundheitserziehung heißt. Titten hat sie auch so gut wie keine. Sie ist noch flachbrüstiger als Lucy, die im Grunde nur Hügelchen mit geschwollenen Brustwarzen hat. Selbst Charley ist weiter entwickelt als Ernessa, und ihre Periode hat sie auch.
Ich bekam meine Periode, als ich ein paar Monate hier war. Ich war gerade vierzehn geworden. Ich erzählte meiner Mutter erst davon, als ich in den Frühjahrsferien nach Hause kam.
»Ich hatte schon Angst, du würdest nach den traumatischen Erlebnissen im letzten Jahr deine Periode gar nicht bekommen«, sagte meine Mutter. »Wie fühlst du
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